Verlag OntoPrax Berlin

Auf dem Weg zu einem posthegemonialen Zeitalter?

Zur Krise der unipolaren Weltordnung

Übersicht

1. Anfang vom Ende der Unipolarität?
2. Die US-Geostrategie: Zwischen Selbstgefährdung und Selbstbehauptung

Anmerkungen

„Der Westen betrachtet uns im Ukrainekonflikt als eine widerspenstig
gewordene Kolonie und nicht als ein eigenständig handelndes Subjekt.“
(Sergej Kurginjan, 23. Okt. 2022)

1. Anfang vom Ende der Unipolarität?

Wenn wir die vergangenen dreißig Jahre seit dem Ende des Ost-West-Konflikts Revue passieren lassen und uns die europäische Außen- und Sicherheitspolitik vergegenwärtigen, so werden wir erstaunt darüber sein, wie das gestern noch als endgültig untergegangen Geglaubte heute „urplötzlich“ wie Phönix aus der Asche aufersteht und zu uns zurückkehrt. Die europäische Sicherheits- und Friedensordnung ist in einem dramatischen Wandel begriffen und wir stehen erst am Anfang eines neuen Zeitalters, das wir nichts anderes als ein posthegemoniales bzw. postunipolares Zeitalter bezeichnen müssen.

Sicher ist, dass die hegemoniale Dysbalance in Europa1 nicht mehr genügt, um die Sicherheit und den Frieden gewährleisten zu können. Die US-Hegemonialstellung in Europa ist in eine Krise geraten. Gleichzeitig beobachten wir mit Erstaunen eine Wiederkehr des Ethnonationalismus und des nationalen Egoismus sowie eine Wiederentdeckung des nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins, die zunehmend auf Distanz zur globalisierten Weltwirtschaft ebenso wie zur globalen Machteliten gehen.

Das im Entstehen begriffene posthegemoniale Zeitalter geht aber auch auf eine weltweit zu beobachtende Rückkehr eines nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens auf die weltpolitische Bühne und die Besinnung auf die eigenen nationalen Interessen zurück. Diese weltweite Entwicklung entfernt sich immer mehr von der Vision von „One World“ eines Wendell Willkies2. Statt der Vision von „Einer Welt“ laufen wir die Gefahr in Anbetracht der momentan tobenden Nuklearhysterie3 „Keine Welt“ („No World“) mehr zu erhalten. Wir bewegen uns darüber hinaus im langfristigen Trend auf eine Deglobalisierung der Weltwirtschaft und eine Multipolarisierung der Weltordnung zu. Es wäre falsch, diese Bewegung allzu radikal und allzu sprunghaft vorzustellen, solange es allerdings nicht zum militärischen Zusammenprall der geopolitischen Rivalen kommt.

Die geschichtliche Erfahrung lehrt uns, dass nur das in einem langen historischen Prozess Tradierte und nicht das in der Retorte Gezeugte auf Dauer Beständigkeit verspricht und Stabilität sichert. In den weltgeschichtlichen Zusammenhängen betrachtet, ist eine unipolare Weltordnung eher eine Ausnahme als Regel, wohingegen eine multipolare Welt ein Normalzustand ist.

Mehr noch: Eine unipolare Weltordnung muss – sollte sie in der letzten Konsequenz gedacht und verwirklicht werden – zu einem „Weltstaat“ führen. Und dieses weltpolitische Ungeheuer „dürfte wohl“ – wusste schon Hannah Arendt – „das tyrannischste Gebilde sein, das sich überhaupt denken lässt, vor dessen Weltpolizei es dann auf der ganzen Erde kein Entrinnen mehr geben würde, bis er schließlich auseinanderfällt.“4

Die nach dem Ende der Bipolarität von den USA geschaffene unipolare Weltordnung zielt darauf ab, einen auf der Grundlage der sog. „westlichen Werte“ gegründeten „Weltstaat“ zu schaffen. Dieser „Weltstaat“ sollte vordergründig die im westlichen Sinne verstandenen Prinzipien des Liberalismus und der Demokratie verkörpern. Hintergründig ging es den USA aber darum, die Vielfalt der Völker und Länder in eine geopolitische und geoökonomische Einheit unter Führung des US-Hegemonen zu verwandeln und innerhalb dieser universalen Einheit der US-Hegemonie zum Sieg zu verhelfen.

Der Versuch der Schaffung einer solchen universalen Einheit unter US-Führung ist (das können wir heute mit Fug und Recht behaupten) gescheitert und er musste auch scheitern. Der Traum von der US-Hegemonie als einer neuen Variante der „One World“-Idee ist deswegen krachend gescheitert, weil er das Selbstverständlichste zum Allerfragwürdigsten machte, indem er die Vielfalt von historisch gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen naturwidrig zu vereinheitlichen bzw. zu uniformieren versuchte.

Heute sind die Voraussetzungen zur Wiederkehr einer multipolaren Weltordnung deutlich zu Tage getreten und nicht mehr zu übersehen. Vor dem Hintergrund einer eskalierenden Großmächterivalität stehen wir vor dem Dilemma: die Eskalation fortzusetzen oder eine neue Machtbalance zu finden und die europäische und die globale Sicherheits- und Friedensordnung nach einem anderen, „neuen“ Ordnungsprinzip zu organisieren, welches nicht auf den „westlichen Werten“, sondern vielmehr wie seit eh und je auf einem Interessenausgleich berührt, auch wenn jedes Balancesystem alles anderes als einfach ist und stets einer Korrektur bedarf.

Der Machtkampf um das andere Ordnungsprinzip ist letztlich ein Kampf zwischen der Unipolarität und der Multipolarität bzw. den vom Westen unter US-Führung (noch) dominierten globalen Machtstrukturen und den eigenstaatlichen nationalen Machtinteressen. Es ist ein Machtkampf zweier konträrer Ordnungsprinzipien der Globalität und der Nationalität bzw. des Universalismus und Partikularismus. Das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts entstandene und sich im Europa des 19. Jahrhunderts rasch ausgebreitete Nationalitätsprinzip hat seinen vorläufigen Höhepunkt um die Mitte des Jahrhunderts erreicht.

Im Bann dieser Entwicklung befand sich dieses neue Ordnungsprinzip „im Zwiespalt zwischen einer älteren Ordnungsidee, in der das Nationale noch gebändigt erschien, und dem durch den Nationalliberalismus geprägten Nationalstaat, der das Nationale zugleich beschränkte und entfesselte.“5

Diese Janusköpfigkeit der Neuzeit, welche die zu einem unauflösbaren Knäuel vermischten – gleichzeitig gebändigten und entfesselten – Geister des nationalen und nationalstaatlichen Identitätsbewusstseins freisetzte, war schon in der Revolution von 1848 zu beobachten. Bereits zu dieser Zeit lernten wir – entrüstete sich Werner Konze6 einst in Anlehnung an Franz Grillparzer – „Ansätze jenes Weges kennen, der Humanität durch die Nationalität zur Bestialität (Grillparzer) führen sollte, ohne dass wir damals Ausmaß und Konsequenzen auch nur ahnen konnten.“

Diese neuzeitliche aneinandergekoppelte Nationsbildung und Machtstaatsentwicklung ging mit Massenmobilisierung über die Radikalisierung des Nationalbewusstseins und die Entstehung der totalitären Ideologien bis zum brachialen Ethnonationalismus, Chauvinismus und Rassismus einher. Der Höhepunkt dieser Entwicklung gipfelte in der Machtergreifung des Faschismus und des Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, welche das nationale Identitätsbewusstsein völlig diskreditierte.

Als Reaktion auf die Radikalisierung, Brutalisierung und Pervertierung des Nationalitäts- bzw. Nationalstaatsprinzips entstand die eben erwähnte Vision von der „One World“. Bereits der US-amerikanische Kriegsminister Henry L. Stimson (1940-1945) vertrat n seiner Rede vom 9. Juli 1941 die Auffassung, dass die Welt heute zu klein für zwei einander entgegengesetzte Systeme sei.7 Stimsons Überlegungen wurde von seinem Kollegen US-Außenminister James F. Byrnes (1945-1947) aufgegriffen, indem dieser an der Potsdamer Konferenz (Juli/August 1945) die Sowjetunion in das US-amerikanische „One-World“-System zu integrieren versuchte, womit er bekanntlich kläglich gescheitert ist. Die geopolitischen, geoökonomischen und nicht zuletzt ideologischen Machtinteressen standen in einem derart krassen Gegensatz zueinander, dass von der Verwirklichung eines „One-World“-Traums gar keine Rede sein konnte.8

Stimson und Byrnes verstanden unter „One World“ – um mit Carl Schmitt9 zu sprechen – eine „Organisation menschlicher Macht, die die Erde und die gesamte Menschheit planen, lenken und beherrschen soll“ und als „ein einziges Zentrum politischer Macht“ auftritt. Zu Ende gedacht, führt die „One World“-Idee zur Errichtung eines „Weltstaates“, der alle nationalen Barrieren und alle ideologischen Systeme überwinden und eine universale Weltordnung schaffen sollte. Die Frage, ob „die Erde (dafür) heute schon reif ist“, hat Carl Schmitt im Jahr 1951 verneint. Und heute?

Einen neuen Versuch unternahmen die USA nach dem Ende der bipolaren Weltordnung mit der Errichtung einer auf die US-Hegemonie gegründeten unipolaren Weltordnung. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat diese US-Hegemonialordnung, die bereits mit dem Aufstieg Chinas zur geoökonomischen Supermacht, der militärischen Erstarkung Russlands und der zunehmend erstarkten zentrifugalen Kräfte innerhalb der Weltgemeinschaft in Frage gestellt wurde, ihre sichtbarsten Risse bekommen.

Als Reaktion auf die Pervertierung des Nationalitätsprinzips entstand wie gesagt eine „One World“-Idee, welche das Universalitätsprinzip nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges vergeblich zu etablieren versuchte. Auch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts versuchten die USA dieses Prinzip durch die Etablierung einer unipolaren Weltordnung unter eigener Regie zu verwirklichen. Auch dieses Unternehmen ist gescheitert.

Und jetzt? Jetzt erleben wir eine Wiederkehr bzw. Renaissance des nationalen Identitätsbewusstseins und nationalstaatlichen Souveränitätsdenkens inmitten der tobenden Großmächterivalität, eines zunehmenden Zerfalls der globalisierten Weltwirtschaft und des ausgebrochenen Krieges an der Peripherie Europas. Diese Ereignisse haben das Zeug, die unipolare Weltordnung unter sich zu begraben und eine multipolare Welt mit ihren regional organisierten Machtstrukturen zu errichten. Steuern wir also auf ein posthegemoniales Zeitalter zu? Der Zeitgeist scheint jedenfalls sich in diese Richtung zu bewegen.

2. Die US-Geostrategie: Zwischen Selbstgefährdung und Selbstbehauptung

Das dreißigjährige Bestehen der von den USA dominierten unipolaren Weltordnung hat uns eines gelehrt, dass nämlich nichts so beständig ist wie der Wandel, der nur scheinbar alles umwälzt, den einmal eingeschlagenen Weg aber unverändert lässt. Dieses unverändert Bestehende kennzeichnet auch die US-amerikanische Geostrategie seit dem Ende des Ost-West-Konflikts, nämlich eine ungebrochene Fortsetzung des „Kalten Krieges“ mit anderen Mitteln10.

Führten die USA von 1945 bis 1989/91 einen ideologisch geleiteten Systemwettbewerb gegen den Systemrivalen um eine ideologische Weltführerschaft in der bipolaren Weltordnung, so geht es seit 1992 bis heute mit wachsender Tendenz wellenartig um die Ausbildung, Ausweitung und nicht zuletzt Aufrechterhaltung der US-Hegemonialstellung in der unipolaren Weltordnung mit geopolitischen, geoökonomischen, notfalls auch mit militärischen Mitteln. War der „Kalte Krieg“ (1945-1991) und dessen Eindämmungspolitik überwiegend ideologisch geprägt, so ist der fortgesetzte „Kalte Krieg“ nach 1992 in erster Linie geoökonomischer und geokultureller Natur.

Der geoökonomisch geführte „Kalte Krieg“ hatte insbesondere in den 1990er-Jahren aus US-amerikanischer Sicht einen geradezu durchschlagenden Erfolg. Der von Premierminister Jegor Gajdar am 1. Januar 1992 eingeleitete Transformationsprozess im Russland der 1990er-Jahre stürzte das Land in ein Abenteuer, von dem es sich bis heute nicht erholt hat. Mit seiner dem Monetarismus entlehnten sog. „Schocktherapie“ hat Gajdar einen ökonomischen, sozialen und politischen Kollaps des abgewirtschafteten Sowjetsystems bis auf die Spitze getrieben, ohne dabei deren Macht- und Wirtschaftsstrukturen in die Marktwirtschaft überführen zu können.

Zwar hat er redlich versucht, die russische Wirtschafts- und Verfassungstradition zu überwinden. Indem Gajdar aber Realpolitik und Marktideologie, Herrschaftssoziologie und Marktgläubigkeit, Monetarismus und Geschichtsphilosophie, Geschichte und Gegenwart unheilvoll miteinander vermengte, bewirkte seine Transformationspolitik genau das Gegenteil von dem, was sie ursprünglich beabsichtigte.

Kein geringerer als John Williamson – der berühmt-berüchtigte Erfinder des sogenannten „Washington Consensus“ – verkörperte in seiner Person diese von Gajdar übernommene und umgesetzte „Schocktherapie“. An einer am 13. Januar 1993 in Washington im zehnten Stock des Carnegie Conference Center am Dupont Circle stattgefundenen Konferenz sprach Williamson begeistert von den epochalen „kataklysmischen Ereignissen“ und wies zugleich darauf hin, „dass nur Länder, die wirklich leiden, bereit sind, die bittere Marktpille zu schlucken; nur wenn sie geschockt sind, unterwerfen sie sich der Schocktherapie.“11

Dass diese erbarmungslose Logik eines siegberauschten Technokraten nicht nur marktradikal, sondern auch geoökonomisch gedeutet werden kann und muss, zeigen seine weiteren Auslassungen: „Man wird fragen müssen, ob es möglicherweise sinnvoll sein könnte, absichtlich eine Krise zu provozieren, um die politische Blockade der Reformen zu entfernen. Beispielsweise ist gelegentlich vermittelt worden, es würde sich lohnen in Brasilien eine Hyperinflation anzuheizen, um alle so einzuschüchtern, dass sie diese Veränderungen akzeptieren . . . Kann man sich eine Pseudokrise vorstellen, die dieselben positiven Funktionen ausübt, wie eine reale, nur ohne deren Kosten?“12

Diese im Jahre 1993 offen zutage getretene, als „Pseudokrise“ apostrophierte, vom US-Hegemon insbesondere in den vergangenen zwei Jahrzehnten allmählich und beharrlich umgesetzte Strategie der verbrannten Erde mittels der militärischen Interventionen, der handelspolitischen Sanktionen und der monetären Repressionen, um den globalen Raum stets in einem geopolitischen und geoökonomischen Stresszustand zu halten, war zur damaligen Zeit wahrlich ein revolutionärer Gedanke.

1992 fand – wie wir sehen – nicht das Ende des „Kalten Krieges“, sondern vielmehr dessen Transformation und Fortsetzung mit anderen, zunächst monetaristischen Mitteln statt. Als Zbigniew Brzezinski kurz vor seinem Ableben in einem Spiegel Online-Interview vom 29. Juni 2015 gefragt wurde, ob es einen neuen Kalten Krieg zwischen Russland und den USA gibt, stellte er nüchtern fest: „Wir sind längst im Kalten Krieg. Zum Glück ist es weiterhin unwahrscheinlich, dass daraus ein heißer Konflikt wird.“

Brzezinski hat nur „vergessen“ zu sagen, dass der „Kalte Krieg“ nie aufgehört hat zu existieren. Und so setzt sich dieser „Kalte Krieg“ bis heute unter unterschiedlichen Vorzeichen und nach Bedarf ununterbrochen fort. Wurde er in den 1990er-Jahren überwiegend monetaristisch bzw. geoökonomisch geführt, so kommt heute zurzeit des Ukrainekonflikts eine indirekte militärische Konfrontation zwi-schen Russland und dem Westen bzw. den USA noch hinzu. In dem Augenblick, in dem die USA sich unüberhörbar auf die Seite der Ukraine begaben und in den Ukrainekrieg mit direkten Waffenlieferun-gen und finanzieller Unterstützung einmischten, haben sie einen an und für sich regionalen Konflikt internationalisiert und geopolitisiert.

Der US-Geostrategie geht es in diesem Krieg vor allem und in erster Linie um die Aufrechterhaltung der unipolaren Weltordnung im Allgemeinen und die Verteidigung der US-Hegemonialstellung in Europa im Besonderen. Diese geostrategische Zielsetzung haben die USA schon jetzt zum Teil erreicht: (1) Sie haben die EU militär- und sicherheitspolitisch in ihrem geopolitischen Machtkampf gegen Russland auf Linie gebracht; (2) durch die Isolierung Russlands von Europa die Energiekrise ausgelöst und dadurch die EU-europäische Wettbewerbsfähigkeit geschwächt und (3) das chinesische Infrastruk-turprojekt „Neue Seidenstraße“ in Europa konterkariert.

Ob diese bereits erreichten Erfolge zur Aufrechterhaltung der unipolaren Weltordnung ausreichen werden, ist zweifelhaft. Denn der Kriegsausbruch in der Ukraine war nicht etwa der Auftakt, der Auslöser oder das Vorspiel zur Überwindung der unipolaren Weltordnung, sondern vielmehr das Endspiel einer langen Entwicklung, die der US-Hegemonie zum Verhängnis geworden ist. Diese verhängnisvolle Entwicklung geht bereits auf die Clinton-Administration (1993-2001) zurück. Sie leistete dieser Entwicklung „in Verbindung mit einer Ausweitung des Konzepts der Verteidigung (Art. 54 UN-Charta) und einer verengten Interpretation des Gewaltverbots (Art. 2, Abs. 4) einer erneuten >Enttabuisierung des Militärischen< … nach dem Ende des Ost-West-Konflikts Vorschub“.13

Wer wie Clinton bereits in seinem Wahlkampf eine Akzentverlagerung der US-Politik von außen nach innen ankündigte, um die wirtschaftliche Wohlfahrt des eigenen Landes voranzutreiben, zugleich aber die „richtige“ US-Sicherheitspolitik in der Ausbreitung von Demokratie und Marktwirtschaft sah, war auf die Unterstützung der Vereinten Nationen (VN) bzw. der internationalen Organisationen angewiesen.

Clinton konnte sich jedoch mit seinem Vorhaben innenpolitisch nicht durchsetzen und musste „im Sommer 1994 die Flucht in die Außenpolitik antreten und die Rückkehr in die Weltführung durch Führung der NATO und anderer Militärallianzen ankündigen. Sein Programm und seine politische Macht reichten nicht aus, um die in vier Dekaden geronnene Struktur der amerikanischen Weltpolitik noch zu verändern. Sie hatte durch den Sieg konservativer Republikaner bei den Kongresswahlen 1994 sogar zusätzliches Profil gewonnen. In deren >Contract with America< spielten die VN keine, die Steigerung amerikanischer Militärmacht aber eine entscheidende Rolle.“14

Das Jahr 1994 besiegelte mit „Contract with America“ nicht nur die Fortsetzung des „Kalten Krieges“ und veränderte nicht nur grundlegend Clintons Präsidentschaft bis zum Ende seiner Amtszeit, sondern markierte auch – ohne dass Clinton dessen bewusst war – die Geburtsstunde einer unipolaren Weltordnung.

Ohne die innenpolitische Machtverschiebung lässt sich nach Czempiels Mutmaßung gar „nicht erklären, dass Präsident Clinton sich 1999 mit dem Luftkrieg gegen das ehemalige Jugoslawien anlässlich der Kosovo-Krise in die Reihe derjenigen seiner Vorgänger einreihte, die Kriege ohne VN- Mandat führten, und dass es ihm gelang, auch die westliche Militärallianz NATO auf diesem Weg aus dem Gewaltverbots- und kollektiven Sicherheits-Regime der VN mitzunehmen. Zuvor schon hatte er sich, ebenfalls in dieser Tradition, zum alleinigen Vollstrecker von VN-Beschlüssen erklärt.“15

Mit dem Kosovo-Krieg hebelte die Clinton-Administration de facto die VN-Nachkriegsordnung aus und leitete das Zeitalter einer unipolaren Weltordnung ein, welche die Interventionspraxis unter Umgehung des Gewaltverbots der UN-Charta ermöglichte und die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig machte. Das war aber bei weitem nicht der einzige Grund für die radikale Veränderung seiner Außenpolitik.16

Wie auch immer, die Clinton-Administration leitete nicht nur das Zeitalter einer unipolaren Weltordnung ein, sondern legte gleichzeitig auch eine tickende Zeitbombe zur Zerstörung eben dieser von ihr gerade ins Leben gerufenen unipolaren Weltordnung.

„Was für Clinton die Folge innenpolitisch erzeugter Handlungsnöte war, wurde für seinen Nachfolger George F. Bush (2001-2009) … zu einer Tugend. Er setzte sich an die Spitze der in der Struktur der amerikanischen Sicherheitspolitik schon lange vorbereiteten Bewegung, die amerikanische Weltführung nicht nur außerhalb der VN, sondern ohne sie zu betreiben.“17 Bushs Präsidentschaft war die Blütezeit der unipolaren Weltordnung. Griffen die USA beim Afghanistan-Krieg zu dessen Legitimation noch auf VN zurück, so setzte sich die Bush-Administration mit ihrer Entscheidung zum Alleingang im Irak-Krieg „über das Gewaltlegitimationsmonopol des Sicherheitsrates hinweg“ (ebd.).

Und es war nur folgerichtig und konsequent vom Vorsitzenden des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministerium, Richard Perle, 2002 seine „tiefe Besorgnis“ darüber zu erklären, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4).18

Die innenpolitisch und ideologisch motivierte Außenpolitik der Clinton-Administration, welche die „richtige“ US-Sicherheitspolitik „in der Ausbreitung von Demokratie und Marktwirtschaft“ sah, fand also nahtlos nicht nur ihre Fortsetzung in der Außenpolitik der Bush-Administration, sondern erlebte eine geradezu dramatische geopolitische Erweiterung um ein Konzept des Präventiv- und Präemptiv- Krieges. „Was sein Vorgänger Franklin D. Roosevelt 1943 bis 1945 als das zentrale Instrument der amerikanischen Weltpolitik aufgebaut hatte, wurde, nachdem es durch die Entstehung eines der Realpolitik verhafteten >Security Establishment< über die Jahre hin unterminiert worden war, von seinem Nachfolger George W. Bush regelrecht liquidiert. Aus dem Konzept einer amerikanischen Weltführungspolitik durch Führung einer internationalen Organisation war dessen Gegenteil geworden, die selektive Beherrschung der Welt durch die amerikanische Macht, auch, wenn nicht sogar besonders durch die amerikanische Militärmacht.“19

Die Folge dieser „Weltführungspolitik“, die sich von einer Soft Power-Politik in den vergangenen zwanzig Jahren in eine Weltbeherrschungspolitik durch die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock) verwandelte, war eine ungewollte Infragestellung der eigenen unipolaren Weltordnung. Als dann die Trump-Administration mit ihrem Geo-Bellizismus noch einen Handelskrieg gegen China von Zaun gebrochen hat20, war die unipolare Weltordnung auch geoökonomisch akut bedroht.

Der US-Hegemon hat sich mit seinen zahlreichen Interventions- und Angriffskriegen geopolitisch überdehnt, militärisch überfordert, monetär bzw. finanziell übernommen und ist letztendlich geoökonomisch über das Ziel hinausgeschossen. Damit hat er den eigenen unipolaren Ast gesägt, auf dem er saß. Und so bewahrheitet sich erneut Stephen Spenders Spruch: „Die Zukunft ist eine vergrabene Zeitbombe, deren Zeitzünder in der Gegenwart abläuft.“21

Wie auch immer der Ukrainekrieg ausgehen mag, er ist der Anfang vom Ende der unipolaren Weltordnung unter Führung des US-Hegemonen. Der Kriegsverlauf in der Ukraine hat uns überraschenderweise deutlich gezeigt, dass „der König“ eigentlich „nackt ist“. Denn die Weltmehrheit – der sog. Nichtwesten – hat sich weder dem westlichen Sanktionskrieg gegen Russland angeschlossen noch die Ukraine militärisch und finanziell unterstützt noch hat der westliche Handels- und Finanzkrieg Russland in die Knie gezwungen. Dieser Ukrainekonflikt wird geopolitisch ausschließlich zwischen Russland und dem Westen ausgetragen.

In einem am 18. Mai 2022 in russischer Sprache gegebenen Interview „Индия не собирается отказываться от России“ (Indien hat nicht vor, sich von Russland zu distanzieren) hat der indische Russlandkenner Nandan Unnikrishnan (Ehrenmitglied des Observer Research Fundation) auf die Frage, wie er eine „neue Weltordnung“ vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges einschätzt, eine aufschlussreiche Antwort gegeben: „Es gab die UdSSR und die bipolare Weltordnung. Jetzt haben wir eine neue Weltordnung und wir sprechen von einer strategischen Autonomie, was gleichbedeutend ist mit der Durchsetzung der eigenen Interessen. Diese neue Weltordnung ist … keine unipolare Weltordnung mehr, welche bis jetzt existierte. Wir befinden uns irgendwie im Stadium einer symmetrischen Multipolarität (на какой-то стадии симметричной многополярности), die in ein Duopol oder ein Triopol ausarten kann. Für Indien und Russland wäre es besser eine multipolare Weltordnung zu bewahren, in der mehrere Großmächte die gemeinsamen Probleme lösen können.“

In der Tat stehen wir vor einer Gezeitenwende mit ungewissem Ausgang. Nur eins ist gewiss: Die Zukunft gehört nicht mehr der unipolaren Weltordnung.

Anmerkungen

1. Vgl. Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
2. Willkie, W., One World. New York 1943.
3. Vgl. Silnizki, M., Strategischer Parasitismus“ oder verantwortungslose Strategie? Zur Frage nach Angstlosigkeit und Nuklearhysterie. 24. Oktober 2022.
4. Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1971, 131.
5. Conze, W., Nationalstaat oder Mitteleuropa? Die Deutschen des Reiches und die Nationalitätenfragen Ostmitteleuropas im Ersten Weltkrieg, in: Deutschland und Europa: Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes. Düsseldorf 1951, 201-230 (202).
6. Conze (wie Anm. 5).
7. Zitiert nach Carl Schmitt, Die Einheit der Welt (1951), in: ders., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924-1978. Berlin 2005, 841-871 (843).
8. Näheres dazu Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 111 f.
9. Schmitt (wie Anm. 7), 841.
10. Vgl. Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020.
11. Zitiert nach Silnizki (wie Anm. 10), 15.
12. Zitiert nach Klein, N., Die Schck-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. 2007, 355.
13. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46).
14. Czempiel, E.-O., Die Vereinten Nationen und die amerikanische Weltpolitik seit 1945, in: Rittberger, V. (Hrsg.), Weltordnung durch Weltmacht oder Weltorganisationen? Baden-Baden 2006, 25-40 (34).
15. Czempiel (wie Anm. 14), 34 f.
16. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021; Silnizki, M., Expansionismus. Zur ewigen Wiederkehr des Gleichen. 29. August 2022, www.ontopraxiologie.de.
17. Czempiel (wie Anm. 14), 35.
18. Zitiert nach Müller, H., Die Arroganz der Demokratien. Der „Demokratische Frieden“ und sein bleibendes Rätsel, in: Wissenschaft & Frieden 2 (2003).
19. Czempiel (wie Anm. 17).
20. Vgl. Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.
21. Spender, S., Das Jahr der jungen Rebellen. München 1969, 235; zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1985, 21.

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