Verlag OntoPrax Berlin

Der US-Hegemon und die Großmächterivalität

Konfrontation ohne Ende oder bis zum bitteren Ende?


Übersicht

1. Diffundierende Machtprozesse der US-Außenpolitik
2. Europa in einem geopolitischen Abseits
3. Die Zukunft der Großmächterivalität

Anmerkungen

1. Diffundierende Machtprozesse der US-Außenpolitik

Das Ende des Kalten Krieges brachte nicht so sehr das „Ende der Geschichte“ mit sich, als vielmehr deren Rückkehr durch das Wiederaufleben der westlichen Interventions- und Expansionspolitik und die Reanimierung des zum Teil brachialen Nationalismus der Zwischenkriegszeit in Ostmitteleuropa und insbesondere in Teilen des postsowjetischen Raumes. Die komplexen, ineinander gehenden und aufeinander bezogenen politischen, ökonomischen und ideologischen Prozesse der Gegenwart machen die nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems entstandene US-amerikanische Hegemonialordnung erratischer, chaotischer, unübersichtlicher und dadurch gefährlicher.

Vor diesem Hintergrund ist die Zukunft des globalen Raumes heute unklarer denn je. Wird der Westen seinen universalen Wertgeltungsanspruch gegenüber den außerwestlichen Kultur- und Machträumen kompromisslos durchsetzen wollen, dann ist die „Gefahr von militärischen Kreuzzügen im Namen der Demokratie“ – stellte Herbert Dittgen bereits 1996 vorausschauend fest – „unübersehbar“1.

In der Nummer 6 des Federalist setzte sich Alexander Hamilton mit der Frage auseinander, ob Republiken friedliebender seien, als die anderen Staatsformen, da sie ja auf Handel und wirtschaftlicher Mehrung gegründet seien und der Geist des Handels schließlich die Tendenz habe, das Verhalten der Menschen freundlicher zu gestalten. Hamilton verneinte die Frage mit Gegenfragen: „Hat der Handel bisher je etwas anderes erreicht, als die Ziele des Krieges zu verändern? Ist nicht die Liebe zum Reichtum eine ebenso beherrschende … Leidenschaft wie Macht und Ehre? Sind nicht … ebenso viele Kriege aus kommerziellen Motiven geführt worden wie früher aus Landgier und Herrschaft?“2

„Ein expansiver Handel“, die „weltweite Seefahrt und eine blühende Marine“ sind nach Hamiltons Überzeugung „eine moralische und politische Notwendigkeit“. Selten war das Leitmotiv der amerikanischen Außenpolitik so deutlich wie hier formuliert: eine ökonomische, auf Handel und militärische Macht gestützte Expansionspolitik zur Mehrung des Wohlstands der amerikanischen Nation.

Im Lichte dieser Leitidee muss auch jede demokratische oder liberale Rhetorik der US- amerikanischen Machtelite betrachtet und begriffen werden. Die Notwendigkeit einer Präsenz der amerikanischen Kriegsmarine in allen Weltmeeren und Ozeanen war tendenziell immer schon die Intention der amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik. In diesem Sinne unterschied sich die US-Außenpolitik kaum von der des British Empire, dessen imperialer Erbe die USA nach den beiden Weltkriegen übernommen und erweitert haben. Spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominierte in der amerikanischen Außenhandelspolitik das Expansionsstreben auf den Weltmärkten vor allem im asiatisch-pazifischen Raum.

Die US-amerikanischen Eliten definierten von Anfang an ihre langfristigen strategischen Interessen in einem geoökonomisch-militärischen Bezugssystem. Alfred Thayer Mahan sah mit seinen Schülern die Voraussetzungen für den Aufstieg der USA zur Weltmacht „in der Förderung weltwirtschaftlicher Stärke“. Die Geschichte beweise, „dass nur solche Nationen wahre Größe erreichen …, die wirtschaftlich stark seien – und wirtschaftliche Stärke ihrerseits beruhe auf weltweitem Handel, der seinerseits eine mächtige Flotte als Rückgrat oder auch als Speerspitze für nachfolgende Kaufleute voraussetze.“3

Ohne das geoökonomisch-militärische Bezugssystem hätten – kommentiert Ekkehart Krippendorff 4 die amerikanische Geostrategie – „alle anderen Erscheinungen und Äußerungen von Sendungsauftrag, Missionsbewusstsein, Führungsanspruch und kultureller Überlegenheit nur die Bedeutung skurriler Randerscheinungen.“ Was die amerikanische Außenpolitik vor und nach dem Zweiten Weltkrieg unterscheidet, ist weder die Absage an „Isolationismus“ noch die Aufgabe der Tradition der Bündnislosigkeit, sondern allein eine radikale Veränderung der geopolitischen Kräfteverhältnisse zugunsten der zu einer Supermacht aufgestiegenen USA und die entstandene Systemkonfrontation im begonnenen Kalten Krieg.

Nach dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums stiegen die USA nunmehr zum weltweiten Alleinherrscher auf – zur Hegemonialmacht, die sich nicht nur als eine „Weltmacht ohne Gegner“5 positioniert, sondern auch und vor allem als eine Macht, die sich leisten kann, die erfolglosen und verlustreichen Kriege führen zu können, ohne daran zugrunde gehen zu müssen. Die sinnlose Interventions- und Invasionspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte, welche die gigantischen monetären Ressourcen verschlungen, einen monströsen Verlust an Menschenleben und einen Imageverlust des amerikanischen „way of life“ verursacht hat, war zwar der wichtige, aber bei Weitem nicht der ausschlaggebende Grund für einen Erosionsprozess der US-Welthegemonie. Der entscheidende Grund sind die auf den Kalten Krieg zurückgehenden, verkrusteten Denkvoraussetzungen und Denkstrukturen der außenpolitischen Machtelite der USA, die sie eines Tages „in die völlige Katastrophe hinein“ (George F. Kennan) führen werden.

Jede außenpolitische Vorgehensweise ist dadurch präformiert, dass sie von ideologisch bedingten Vorverständnissen und systeminhärenten Entscheidungsprozessen, welche die außenpolitische Elite maßgeblich formen und ihre Urteile und Vorurteile prägen, präjudiziert wird. Die präformierten Denk- und Entscheidungsstrukturen machen blind und verzerren dadurch komplexe und widerspruchsvolle Realitätsbezüge der Außenwelt, die widerspruchslos erscheinen mögen, weil die ihnen zur Verfügung stehenden Informationsquellen aufgrund vorgegebener, eigener, vom determinierten Entscheidungssystem festgelegter, aber nicht mehr überprüfbarer und vor allem nicht hinterfragbarer Wert- und Ordnungsvorstellungen verarbeitet werden.

Die Axiome dieser nicht hinterfragbaren Wert- und Ordnungsvorstellungen erzeugen ein „Syndrom eingebauter Blindheiten“6, das den Nachrichtenstrom von der Außenwelt ideologisiert und wie in einem Zerrspiegel das Zerrbild der geopolitischen Realität wiedergibt, wodurch nur die eigene im Kern starre, weil auf sich bezogene, inflexibel gewordene politische Denk- und Entscheidungsstruktur selbstbestätigend verdeckt wird, „die ihrerseits in besonders hohem Maße internalisiert ist und sakrosankt gilt“7. Das etablierte auf den Kalten Krieg zurückgehende Denk- und Machtsystem erlaubt, kurz gesagt, allein nur die Denk- und Entscheidungsprozesse, die von den festgefahrenen Machtstrukturen längst festgelegt und vorgegeben sind.

Bereits in den 1960er-Jahren beklagte Henry Kissinger sich bitter über die Probleme „bürokratischer Kontrolle außenpolitischer Entscheidungsprozesse“. In seinem 1966 veröffentlichten Artikel über „Innenpolitischen Strukturen und Außenpolitik“ („Domestic Structure and Foreign Policy“) hob er hervor, „welche verheerenden Folgen insbesondere die Bürokratisierung der außenpolitischen Entscheidungsprozesse für die amerikanische Außenpolitik hatte“. Dreh- und Angelpunkt dieser Kritik „an der Praxis der amerikanischen Außenpolitik war das Argument, dass die mit der Außenpolitik befassten Bürokratien nicht mehr in der Lage seien, eine den Erfordernissen der Zeit angemessene Außenpolitik zu betreiben. Da die Zeiten nicht >normal<, sondern im Gegenteil >revolutionär<, d. h. im Umbruch begriffen, seien, entstünden durch die bürokratische Kontrolle der Außenpolitik besondere Gefahren, denn Bürokratien identifizieren sich zu sehr mit der Politik der Vergangenheit und Gegenwart, als dass sie in der Lage wären, neue Konzeptionen zu entwickeln oder gar durchzuführen.“7a

Seitdem hat sich im Wesentlichen nichts geändert, sieht man von der Nixon/Kissinger- Entspannungspolitik der 1970er-Jahre und der Aufbruchstimmung der ersten Hälfte der 1990er-Jahre nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems ab. Der „Geist“ des „Kalten Krieges“ bleibt auch ohne den „Kalten Krieg“ voll intakt. Es wäre darum irreführend und nicht zielführend, die festgeschnürten Machtstrukturen als einen „tiefen Staat“ zu denunzieren.

Die außenpolitische Handlungs- und Entscheidungsmaschinerie des US-Hegemons in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist gekennzeichnet durch ein hohes Maß an Destabilisierungs- und Chaotisierungsstrategie weiter Teile des globalen Raumes (mit dem Schwerpunkt des postsowjetischen Raumes, des Nahen Ostens und der Pazifikregion) und durch eine zunehmende geoökonomische und desinformative Konfrontation gegen die geopolitischen Rivalen, womit die inneren Widersprüche der entstandenen, hegemonialen Weltordnung lediglich verdeckt werden und eine Erosionstendenz beinahe aller nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Weltorganisationen sichtbar verschleiert wird.

Der stattfindende innen-, außen-, geopolitisch und geoökonomisch bedingte Erosionsprozess der Pax Americana wird dadurch nur verzögert, aber nicht unterbrochen, weil die sich gegenseitig aufhebenden, teleologischen Wertbezüge und Zielsetzungen der US- amerikanischen Hegemonialpolitik unverändert bestehen bleiben: gleichzeitig merkantilistisch geleitete Außenwirtschaftspolitik und Freihandelspolitik; eine von nationalen Interessen geleitete Außenpolitik und die gleichzeitige Propagierung der westlichen Universalideologie; eine robuste Machtpolitik notfalls mittels militärischer Interventionen und zugleich eine Expansionspolitik des sogenannten „liberalen Internationalismus“ im Namen der Humanität und Menschenrechte.

Der seit Langem schwelende, inneramerikanische Verfassungskonflikt, dessen Verschränkung der Gewalten im politischen System Amerikas – die Machtbalance zwischen Präsident und Kongress – jede außenpolitische Entscheidung des Präsidenten praktisch blockieren kann, destabilisiert zusätzlich nicht nur die globale Weltordnung, sondern schadet auch den Hegemonialinteressen der USA selbst. Die außenpolitische Entscheidungsfähigkeit wird deswegen verkompliziert, weil eben die amerikanische Verfassung „der Exekutive keine Vorrechte für die Durchführung der Außenpolitik“ gewährt. „Die Furcht vor Machtmissbrauch und Machtusurpation bezog sie auch auf die außenpolitischen Kompetenzen des Präsidenten.“8

Die innenpolitische Knebelung der amerikanischen Außenpolitik ist genauso verfassungsrechtlicher wie ideologischer Natur, da das „amerikanische Credo, das Sendungsbewusstsein einer >auserwählten Nation< … in fast allen außenpolitischen Deklarationen gegenwärtig (ist)“9.

Die ideologische Knebelung macht die US-Außenpolitik erst recht unberechenbarer, da sich der sendungsbewusste Missionsgedanke sowohl mit „exzessivem Moralismus“ und Selbstgerechtigkeit als auch mit exzessiver Gewalt und Machtarroganz verbinden lässt, was wiederum zur Selbstverblendung, Ignoranz und letztlich zur Verhärtung der außenpolitischen Positionen führen kann. Kurzum: Die Missionierung der „westlichen Werte“ von Demokratie und Menschenrechten kann „nicht den Export von Demokratie bedeuten“ – glaubt Herbert Dittgen10 zu wissen -, „sondern kann nur heißen, die Bedingungen für demokratische Entwicklung zu verbessern.“ Aber genau diese „Verbesserung“ ist und bleibt eine Illusion, solange der US-Hegemon sich keine Mühe gibt, sich nicht nur rhetorisch als „liberal“ zu tarnen, aber hegemonial zu verhalten, sondern eine liberale Toleranz auch zu praktizieren und die anderen, historisch-gewachsenen Macht- und Lebensstrukturen der außerwestlichen Kultur- und Machträume getreu dem Leitsatz zu respektieren: „The absurdity of the West is the living reality of the East“ (Edward A. Freeman).

2. Europa in einem geopolitischen Abseits

Betrachtet man den heute stattfindenden Transformationsprozess der Weltordnung vor dem Hintergrund der vier, im globalen Raum einflussreichsten Raummächte: USA, China, Russland und die Europäische Union, so fällt rasch auf, dass die schwächsten Machträume dieser Tetrarchie die EU und Russland sind. Hierfür lassen sich mehrere Gründe einführen:

(1) Die EU ist zwar (noch) eine konkurrenzfähige Wirtschaftsmacht. Dass diese ökonomische und technologische Potenz auf Dauer Bestand haben wird, ist aber längst nicht ausgemacht.

(2) Die EU ist kein zentralgesteuerter Machtraum. Das ist ein großer EU-Schwachpunkt. Zwar hat sie mit Brüssel de jure ein Unionszentrum, de facto ist aber die EU in zahlreiche Machtzentren mit unterschiedlichen, oft gegensätzlichen Interessen und mit einem informellen, aus Frankreich und Deutschland zusammengesetzten Direktorium an der Spitze zersplittert, das unter sich ebenfalls oft uneinig ist. Die Zersplitterung erschwert eine Entscheidungsfindung und Handlungsfähigkeit der Union, zumal die Handlungsfähigkeit gegenüber den anderen Mitgliedern der Tetrarchie meist eher simuliert als praktiziert wird.

(3) Mit einem drittklassigen Nuklearpotenzial besitzt die EU weder ein ausreichendes Abschreckungs- noch Bedrohungspotenzial. Gemütlich zu Zeiten des Kalten Krieges unter dem US-amerikanischen Nuklearschirm eingerichtet, dachte sie nach dem Untergang des Sowjetimperiums erst recht nicht daran, ihre militärischen Kapazitäten zu erhöhen bzw. auszuweiten. „Nahezu 100% der Abwehrfähigkeiten gegen ballistische Raketen werden von den USA in die NATO eingebracht. Und natürlich stellen die USA den weit überwiegenden Teil der Fähigkeiten zur Abschreckung“, stellte die Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in ihrer zweiten Grundsatzrede am 17.November 2020 fest.

(4) Auch die europäische, grundsätzlich eher auf Frieden, denn auf Krieg ausgerichtete Lebenseinstellung bzw. Geisteshaltung (von den militärischen Interventionen der vergangenen zwanzig Jahre, die zumeist unter US-amerikanischer Führung stattfanden, mal abgesehen) steht der EU im Wege, sich als eine starke, militärische Raummacht zu positionieren und von Russland und den USA ernstgenommen zu werden. Darum bleiben die EU-Staaten bis auf Weiteres ein militärisches Anhängsel des US-Hegemons. Es ist – meint Kramp-Karrenbauer in ihrer Grundsatzrede – eine „Illusion“, von der „Idee einer strategischen Autonomie Europas“ zu sprechen, da wir „Sicherheit, Stabilität und Wohlstand in Europa ohne die NATO und ohne die USA“ nicht gewährleisten können.

(5) Die EU-Europäer bleiben der veralteten, nicht mehr zeitgemäßen Nachkriegsideologie verhaftet, die ihre Außenpolitik maßgeblich prägt und die nicht mehr existierende sowjetische Bedrohung in eine vermeintliche „russische Gefahr“ transformiert. Diese ideologisch bedingten Phantomschmerzen der EU-Europäer erschweren unnötigerweise die vorurteilsfreien und ideologisch unbelasteten Beziehungen zu Russland, provozieren eine sinnentleerte Konfrontation und spielen allein den US- Geostrategen in die Hände getreu dem berühmten Spruch des ersten NATO- Generalsekretärs, Baron Ismay: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“.

(6) Ganz gemütlich unter dem US-amerikanischen Nuklearschirm eingerichtet, maßen die EU-Europäer nach der Devise: >Zunächst die Volksbeglückung, erst dann die Selbstverteidigung<, dem Sozialstaat mit seinen gigantischen Sozialausgaben, Sozialleistungen und -verpflichtungen aller Art bei weitem einen höheren Stellenwert als den Militärausgaben bei. Während die USA und die Sowjetunion im Kalten Krieg hunderte und aberhunderte Milliarden für ihre Verteidigung und Sicherheit zwecks gegenseitiger Abschreckung ausgegeben haben, weil sie sie ausgeben mussten, bauten die EG-Europäer sonnengebrannt lieber ihren Wohlfahrtsstaat auf und aus. Zu Recht stellte Ulrich Menzel bereits 2004 fest: „Nicht nur sicherheitspolitisch ist EuropaTrittbrettfahrer der USA, auch die sozialstaatliche Abfederung des europäischen Paradieses ist nur möglich, weil die USA den Militärausgaben gegenüber den Sozialausgaben mehr Gewicht beimessen“11 und sich die westliche Supermacht nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang im wohlverstandenen Eigeninteresse um die Stabilität der liberalen Weltordnung kümmerte und deswegen das Trittbrettverhalten der europäischen Verbündeten tolerierte.

Die verteidigungs- und sicherheitspolitische Trittbrettfahrer-Mentalität rächt sich heute umso mehr, als die EU-Europäer schmerzlich feststellen müssten, wie sehr sie infolge ihrer eigenen, außenpolitisch halbierten und geopolitisch nichtexistenten Souveränität vom US-Hegemon geoökonomisch, geopolitisch undjustizmerkantilistisch vorgeführt werden. Weder die US-Amerikaner noch Putins Russland nehmen heute die EU-Europäer außen- und geopolitisch ernst.

Das außenpolitische EU-Establishment scheint heute offenbar das Bedürfnis zu haben, diese geopolitische Ohnmacht der Europäischen Union mittlerweile öffentlich zuzugeben: „Wenn die EU >a player, not a payer< sein“ und „sich selbst strategischer positionieren und Potentiale gewinnbringend auf die geopolitische Waagschale werfen (wolle)“, dann kann „der internationale Einfluss der Europäischen Union“ – gesteht Volker Perthes freimütig zu – „gewiss nicht in erster Linie auf ihrem militärischen Potential“12 beruhen.

Und er fügt rechtfertigend hinzu: „Gerade bei der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik klaffen Anspruch und Wirklichkeit weit auseinander. Die EU kann selbständig eben keine Schutzzone in Syrien einrichten, sie kann aus eigener Kraft auch kein Waffenembargo für Libyen durchsetzen oder dort ein Ende der Kämpfe erzwingen.“ Wenn dieEU militärisch weder handlungsfähig noch handlungswillig ist und darum keine Drohkulisse aufbauen kann, wie kann sie dann ihre geopolitischen Ziele durchsetzen? Allein mit ihrer „Wirtschaftsmacht“, die sie „natürlich auch selbst für politische Ziele einsetzt“ (Perthes)?

Perthes ́ Analyse der geopolitischen Machtlosigkeit der EU wird zugleich moralisch überhöht und als Rechtspflicht stilisiert. „Anders als beim Einsatz vergleichbarer Mittel durch die USA, Russland oder China“ – belehrt uns Perthes – „versucht die EU hier, nicht geopolitische Interessen durchzusetzen, sondern normative Prinzipien.“ Nun ja, wenn man keine Macht hat, verklärt man die eigene Ohnmacht als >Durchsetzung normativer Prinzipien< und ruft nach Recht und Gerechtigkeit.

Da möchte man dem außenpolitischen EU-Establishment mit Nietzsche am liebsten immer wieder und immer lauter zurufen: „Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht …, will man Gerechtigkeit, d.h. gleich Macht“ (Der Wille zur Macht, Nr. 784).

In einem Punkt muss man Perthes eine gewisse Originalität zugestehen, wenn er zu Recht fragt: „Müssen wir politisch schwierige Partner womöglich eher umarmen als ausgrenzen?“ Ja, wir müssen! Nur nicht deswegen, um anmaßend mit moralischem Zeigefinger die „Verhaltensänderungen zu fördern“ (Perthes), sondern um den Weltfrieden nicht zu gefährden.

Die EU verliert mittel- bis langfristig ihren ökonomischen und technologischen Vorsprung an die Region Asien-Pazifik und es wird ihr kaum gelingen, selbst mit Hilfe der USA – sei es mittels der „humanitären Interventionen“ oder als verbale „Demonstration der Stärke“, oder infolge ihrer Missionierung der „westlichen Werte“ – auf Dauer an der Spitze der geoökonomischen Weltmachtpyramide zu stehen.

Was das Verhältnis zwischen der EU und den USA angeht, so werden erstens die handelspolitischen Spannungen eher zu- als abnehmen, und zwar unabhängig davon, wer an der Spitze der US-Administration steht. Selbst der Sieg Joe Bidens und die Erleichterung darüber seitens der EU-Europäer dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Verhältnis der westlichen Partner untereinander voller Spannungen bleiben wird. „Eine Rückkehr in die Zeit“ – stellte das Handelsblatt (10.11.2020, S. 6) zu Recht fest –, „als Amerika sich um die Sicherheit Europas kümmerte und sich die europäischen Staaten auf ihre Wirtschaft konzentrieren konnten, wird es nicht mehr geben.“

Wenn es zweitens um eine monetäre Vormachtstellung in der Welt geht und es sich die Frage stellt: Dollar oder Euro, werden die USA alles tun, um die EU zerfallen zu sehen. Der EU-Zerfall liegt dann – monetär gesehen – im geoökonomischen Interesse des US-Hegemons.

Was das Verhältnis zwischen der EU und Russland anbelangt, so hat zwar die Auflösung der Sowjetunion vor dreißig Jahren die ideologische Blockkonfrontation beendet, die axiologisch verklärte, geopolitische Konfrontation aber nicht beseitigt. Die Geopolitik wird von den EU- Europäern axiologisch ausgeblendet, indem sie krankhaft immer wieder versuchen, die geopolitische Rivalität zu ideologisieren bzw. axiologisch zu vernebeln. Dass die „Zeit der Ideologien“ (Karl D. Bracher) längst vorbei ist, scheint in die Köpfe der EU-Machtelite auch dreißig Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges immer noch nicht vorgedrungen zu sein.

Da nun aber eine geopolitische Konfrontation einer anderen Logik als der ideologischen folgt, laufen die EU-Bemühungen, Russland durch Sanktionen zu schwächen oder zumindest gefügiger zu machen, ins Leere. Die EU kann Russland heute ökonomisch weder isolieren noch in die Knie zwingen, davon ganz zu schweigen, dass sie als Bestrafende gleichzeitig auch sich selbst bestraft. Diese Sandkastenspiele führen ins Nirgendwo und offenbaren nur die Ohnmacht der handelnden Akteure.

Es kann dessen ungeachtet nicht ausgeschlossen werden, dass ausgerechnet die Schwächsten der Tetrarchie – Russland und die EU-Europäer (oder zumindest deren Kern) – sich in Anbetracht der tektonischen Machtverschiebungen im globalen Raum und trotz der axiologischen Differenzen einander näherkommen werden, als man aus heutiger Sicht zu prognostizieren vermag. Alles ist heute möglich und denkbar!

3. Die Zukunft der Großmächterivalität

Das geoökonomische Machtkartell des Westens erodiert. Kommt es auch zu dessen geopolitischer und militärischer Erosion? Der Westen stößt an seine ideologischen, ökonomischen und technologischen Grenzen als Folge von mindestens vier Faktoren:

(1) Eine schwindende ideologische Attraktivität des Westens in den außerwestlichen Kultur- und Machträumen.
(2)  Ein relativer geoökonomischer Machtverlust des US-Hegemons.
(3)  Chinas Aufstieg zu einer geoökonomischen Supermacht.
(4)  Die andauernde geopolitische Bedeutungslosigkeit der EU sowie zunehmende außenwirtschafts- und handelspolitische Spannungen zwischen der EU und den USA.

Was China und Russland als die geopolitischen Rivalen des Westens angeht, so ist zweierlei festzustellen: Als ein geopolitischer Riese ist Russland ein geoökonomischer Zwerg, was auf Dauer keinen Bestand haben wird. Entweder verschwindet Russland aus der geopolitischen Weltkarte oder es schließt sich an globale ökonomische und technologische Entwicklungen an und steigt dadurch zumindest zu einer regionalen, ökonomischen Großmacht auf. Als ein geoökonomischer Riese hat China demgegenüber weder eine ideologische Anziehungskraft noch eine mit dem US-Hegemon vergleichbare geopolitische Vormachtstellung. Die geopolitisch gestresste Gegenwart ist die Folge einer Transformation der Nachkriegsordnung in eine hegemoniale Weltordnung mit deren allmählich seit dem Ende des Kalten Krieges stattgefundenen Militarisierung der US-amerikanischen Außenpolitik. Da die entstandene Hegemonialordnung nunmehr selbst die Ansätze zur Erosion zeigt, verschärfen sich dadurch zusätzlich die Spannungen zwischen der (noch) bestehenden UN-Weltordnung und der neuen, amerikanischen Hegemonialordnung, zwischen dem alten US-Hegemon und einem Hegemon in spe (?), zwischen Russland und dem Westen und zuallerletzt zwischen dem Undenkbaren und Unverzichtbaren.

Der (noch) unverzichtbare US-Hegemon verschleiert den Umstand, dass das geopolitische Machtkartell des Westens eine pure Fiktion ist, weil allein die USA geopolitisch handlungs- und entscheidungsfähig sind. Die geopolitische Handlungsfähigkeit verdanken die USA neben ihrer militärischen Macht nicht zuletzt und vor allem ihrer monetären Vormachtstellung. Das heißt aber, dass die USA ihre Weltleitwährung Dollar um jeden nur denkbaren (und undenkbaren) Preis verteidigen werden. Verlieren die USA ihre monetäre Vorherrschaft, werden sie weder geoökonomisch noch geopolitisch überleben. Mit anderen Worten: Betrachtet man die USA allein von monetärem Standpunkt aus, dann geht es um Leben oder Tod der US- Welthegemonie.

Das UN-Völkerrecht, sofern es um Krieg und Frieden geht, hat keine Zukunft mehr. Es wird womöglich in ein neues antihegemoniales Weltordnungssystem der Nach-UN- Völkerrechtsordnung transformiert und dadurch sich den neuen, geoökonomischen und geopolitischen Konstellationen anpassen (müssen). Ein solches antihegemoniales Weltordnungssystem könnte die Gleichgewichtspolitik der Großmächte wieder zum Leben erwecken und – mit Metternich gesprochen – „uns das Schauspiel der vereinten Anstrengungen mehrerer Staaten gegen die jeweilige Übermacht eines Einzelnen (bieten), um die Ausbreitung seines Einflusses zu hemmen und ihn zur Rückkehr in das gemeinsame Recht zu zwingen.“13 Der Gedanke könnte jedoch das bleiben, was er ist: ein Wunschdenken.

Das jahrhundertelang praktizierte „Geschäftsmodell“ der europäischen Großmächte und der USA, nämlich den globalen Raum unter sich zu verteilen bzw. umzuverteilen und mittels einer ökonomischen und militärischen Expansion, Sklavenhandel, Kolonialismus, Imperialismus und Hegemonismus zu beherrschen und dank der ökonomischen und technologischen Überlegenheit zu domestizieren, hat zwar keine Zukunft mehr und geht unwiderruflich zu Ende. Die einzige dem Westen noch übrig gebliebene „friedliche Waffe“ ist die Menschenrechts- und Verfassungsideologie, mit deren Hilfe er immer noch versucht, die als „westliche Werte“ verklärten „westlichen Standards“ je beharrlicher, umso erfolgsloser den außerwestlichen Kultur- und Machträumen zu oktroyieren.

Die geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart sind auf dem besten Wege den globalen Raum mindestens in zwei Machtblöcke zu zerteilen: einen eurasisch-pazifischen und einen transatlantisch-pazifischen. Alles scheint auf einen monetären, technologischen, ideologischen, militärischen, ökonomischen und auch völkerrechtlichen Entkopplungsprozess hinauszulaufen. Zankapfel der beiden Machtblöcke werden Europa und Indien sein. Im Ostmitteleuropa entsteht ein Platzdarm gegen Russland, im Indopazifik sucht der US- Hegemon Indien gegen China in Stellung zu bringen. Die EU wird mittel- bis langfristig als ein monetärer und politischer Einheitsraum nicht überleben und zerfallen. Alle werden ärmer und dadurch aggressiver.

Solange es keinen globalen Krieg gibt, wird die geopolitische Rivalität „friedlich“ über Wirtschafts- und Handelskriege und/oder über einen ideologisch gesteuerten Desinformationskrieg ausgetragen. Diese „friedlichen“ Kampfmittel haben allerdings eine erbarmungslose Logik der Eskalation, die zu regionalen Kriegen ebenso, wie zu einem globalen Krieg führen könnte.

Der Untergang des Sowjetimperiums holt heute auch den Westen ein. Der geglaubte „Sieg“ über den ideologischen und geopolitischen Rivalen erweist sich immer mehr als Pyrrhussieg. Im Glauben, es kann so weiter wie immer gehen bzw. der Westen kann seine Dominanz über die ganze Welt ausdehnen, hat er die Zeichen der Zeit verkannt, weil er Opfer der eigenen Selbstidealisierung geworden ist. „Aller Idealismus“ ist aber – lehrt uns Nietzsche – „die Verlogenheit vor dem Notwendigen“.

Die ideologische, geoökonomische und geopolitische Rivalität führt ins Nirgendwo, da ihr eine affirmative Gestaltung einer neuen Weltordnung fehlt. Was morgen entsteht, ist weder Post-Moderne noch ein Gegenentwurf zur „westlichen Zivilisation“ und schon gar nicht eine erneuerte „liberale Weltordnung“; was morgen entsteht, sind mehrere selbstständig und global agierende, von- und gegeneinander abgegrenzte Raummächte. Sie bleiben dauerhaft auf Konfrontationskurs unter ständiger Gefahr einer ungewollten Eskalation oder einer gezielten Zuspitzung bis zum unvermeidbaren Zusammenprall der verfeindeten und bis auf die Zähne bewaffneten geopolitischen Raummächte. Die Welt wird ungemütlicher, immer vorausgesetzt, dass die Menschheit bis dahin überlebt.

Es ist kein Ausweg in Sicht, es sei denn, der Westen löst das Problem wie immer auf seine Art und Weise, nämlich bellizistisch.

Anmerkungen

1.  Dittgen, H., Das Dilemma der amerikanischen Außenpolitik: Auf der Suche nach einer neuen Strategie, in: Dittgen, H./Minkenberg, M. (Hrsg.), Das amerikanische Dilemma. Die Vereinigten Staaten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts. Paderborn 1996, 291-317 (316).
2.  Zitiert nach Krippendorff, E., Die amerikanische Strategie. Entscheidungsprozess und Instrumentarium der amerikanischen Außenpolitik. Frankfurt 1970, 19.
3.  Zitiert nach Krippendorff (wie Anm. 2), 23.
4.  Ebd., 26.
5.  Rudolf, P./Wilzewski, J. (Hrsg.), Weltmacht ohne Gegner. Amerikanische Außenpolitik zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Baden-Baden 2000.
6.  Krippendorff, E., Pax Americana, in: Die amerikanische Strategie (wie Anm. 2), 439-484 (446).
7.  Ebd., 449.
7a. Zitiert nach Schweigler, G., Von Kissinger zu Carter. Entspannung im Widerstreit von Innen- und Außenpolitik 1969-1981. München Wien 1982, 28 f.
8. Dittgen, H., Amerikanische Demokratie und Weltpolitik. Außenpolitik in den Vereinigten Staaten. Paderborn 1998, 51.
9. Ebd., 71.
10. Ebd., 322.
11. Menzel, U., Paradoxien der neuen Weltordnung. Politische Essays. Suhrkamp 2004, 113.
12. Perthes, V., Der Kontinent muss sein wirtschaftliches Potential stärker mit politischen Zielen verknüpfen. Handelsblatt vom 22.10.2020, S. 9; des., Wie kann Europa an Stärke gewinnen? Handelsblatt vom 17.12.2020, 12; vgl. auch Asseburg, M./Lacher, W./Steinberg, G., Regionale Unordnung in Europas südlicher Nachbarschaft. Konfliktakteure verfolgen Interessen unbeirrt, in: Lippert, B./Mair, S./Perthes, V. (Hrsg.), Internationale Politik unter Pandemie-Bedingungen. Tendenzen und Perspektiven für 2021. SWP-Studie 26, Dezember 2020, 73-76.
13. Zitiert nach Geiss, I., Der lange Weg in die Katastrophe. Die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs 1815-1914. München/Zürich 1990, 42.

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