Verlag OntoPrax Berlin

Gefangen in der Logik des Krieges

Russland und die USA auf Kollisionskurs

Übersicht

1. Von der Verwestlichung zur Entwestlichung der Welt?
2. In einer geostrategischen Sackgasse
3. Die Grenzen des Casus belli

Anmerkungen

„Es wird nach der Regel gespielt, >wenn einer siegt,
sind beide am Ende<.“
(Harvey Wheeler)1

1. Von der Verwestlichung zur Entwestlichung der Welt?

„Der totale Krieg“ – schreibt der französische Kriegstheoretiker Raymond Aron in seinem 1953 erschienenen Werk „Der permanente Krieg“ – „zwingt zur Konzentration der Kräfte, der kalte Krieg lässt sich an vielen Stellen zugleich führen.“2 Wo stehen wir heute im Ukrainekonflikt? Sind wir erneut auf dem Wege zum „totalen Krieg“ wie zu „glorreichen“ Zeiten des „tausendjährigen Reiches“? Oder befinden wir uns schon längst im „Kalten Krieg“? Oder steuern wir auf eine Konfrontation in Permanenz im Zeitalter der multipolaren Weltordnung zu, in welcher die „Deglobalisation“ und „De-Westernisation“ auf dem Vormarsch sind?

Ein renommierter tschechischer Politikwissenschaftler, Prof. Oskar Krejčí ,hat einem tschechischen Internetportal ParlamentniListy.cz am 5. Januar 2023 ein Interview gegeben. In diesem Interview, das die Überschrift trägt: „Past na Ukrajině. Profesor Krejčí: O čem se v NATO nemluví“ (Falle in der Ukraine. Professor Krejčí: Worüber in der Nato nicht gesprochen wird), hat Krejčí auf die Frage: „Wie begründen Tschechien, Deutschland, Frankreich und die USA ihre Vorgehensweise im Krieg?“ eine aufschlussreiche Antwort gegeben: „Vor nicht allzu langer Zeit verlor die Nato den Krieg in Afghanistan. … Haben Sie irgendwelche Diskussion darüber mitbekommen, warum es nach zwei Jahrzehnten des Kampfes überhaupt dazu gekommen ist? Haben Sie eine Diskussion darüber mitbekommen, wie die Nato vermeiden kann, erneut in eine ähnliche Falle zu tappen …? … Ähnelt der Krieg in der Ukraine nicht der afghanischen Falle?“

Und auf die Frage: „Was lehrt uns der Ukrainekrieg über die internationalen Beziehungen?“ antwortet Krejčí : Zwei Lehren können wir daraus ziehen: Erstens bleibe der Krieg „ein politisches Instrument des 21. Jahrhunderts“ und zweitens sei festzustellen, dass die westlichen politischen Eliten bei der Frage, wie der Krieg vermieden werden könnte, völlig versagt haben. Sie nehmen nicht wahr, dass sich die Welt von einer hegemonialen Ordnung zu einer multipolaren (od hegemonistického uspořádání k multipolárnímu) verändere.

„Diese Veränderung ist nicht etwa das Ergebnis von Pekings Bosheit, sondern das Ergebnis wirtschaftlicher Veränderungen nicht nur in China, sondern auch in Indien, Brasilien, Afrika … Bedenken Sie doch, wie in den letzten Jahren in den amerikanischen und dann insgesamt in den westlichen Dokumenten die Betonung auf der Einhaltung der Regeln, nicht aber auf der des Völkerrechts liegt – Regeln …, die von einem Hegemonen bestimmt werden, dessen Ruhm (sláva) verblasst. Der Versuch, sich so gegen die Geschichte und gegen die unvermeidlichen Veränderungen zu stemmen, ist kontraproduktiv – gefährlich für uns – die Menschen im Westen,“ warnt Krejčí in seinem Interview.

Auch Stephen M. Walt (Kolumnist bei Foreign Policy und Prof. f. intern. Beziehungen an der Harvard University) stellt in seinem Artikel „Congrats, You’re a Member of Congress. Now Listen Up.“ am 11. Januar 2023 nüchtern fest: „The United States’ position in the world“ sei nicht mehr das, was sie mal war. Als die Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre kollabierte, waren die USA auf der Höhe ihrer Macht. Erst „die künftigen Historiker“ – fügt Walt hinzu – würden genauer reflektieren können, warum „unipolar moment“ von einer solch kurzen Dauer gewesen sei. Wir befinden uns erneut in der Welt der rivalisierenden Großmächte.

Die anderen Staaten haben nämlich auch ihre eigenen Interessen und selbst die Interessen unserer Freunde stimmen nicht immer mit unseren überein. Indien sei z. B. ein nützlicher Partner im Indopazifik, im Ukrainekonflikt nehme es aber eine neutrale Stellung ein und kaufe nach wie vor viel russisches Öl und Gas. Israel und Saudi-Arabien seien zwar enge US-Verbündete, aber keiner von ihnen rühre einen Finger, um der Ukraine zu helfen. Stattdessen lud Saudi-Arabien kürzlich den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping zum Gipfeltreffen ein und wies die US-Forderungen zurück, die Ölförderkürzungen bei der Ölförderung zu vermeiden, um Russlands Kriegsführung zu unterminieren und die Inflation zu zähmen. Die US-Verbündeten in Europa und Asien haben Zweifel an der Klugheit des „Chipkriegs“ (“chip war”) gegen China, weil er wie ein Bumerang auf die eigene Wirtschaft zurückfällt.

„Mein Rat“ – appelliert Walt an die „members of the U.S. legislature“ -: „Gewöhnen Sie sich dran,“ dass die Welt multipolarer werde. Denn das „unipolare Momentum“ sei dahin.

Genau diese Auffassung vertritt auch Wang Wen (Meinungsmacher der chinesischen Regierungszeitung „Global Times“). In seinem Artikel „Beyond China, as more nations reject the US-led order, 2022 will go down as the year of ‘de-Westernisation’“ schreibt er am 3. Januar 2023: „Die globale Signifikanz des Jahres 2022 wird stark unterschätzt. Seine welthistorische Bedeutung geht über das Jahr 2001 –das Jahr der Anschläge vom 11. September – und 2008 – das Jahr der globalen Finanzkrise – weit hinaus.“

Man sollte 2022 vielmehr mit 1991 vergleichen, als der Kalte Krieg zu Ende ging, und das Schlüsselwort dafür sei „de-Westernisation“. Es gehe dabei nicht nur –fügt Wen hinzu –um einen brachialen Versuch Russlands, die US-dominierte internationale Ordnung mit militärischer Gewalt zu sprengen, sondern auch um einen beispielslosen Aufstand der nichtwestlichen Länder gegen die etablierte Weltordnung auf ihrem Weg nach der eigenen Selbstverortung.

Drei Stimmen – drei Welten – drei Kontinente: Europa – Amerika – Asien! So verschieden sie alle auch sein mögen, so sind sie sich in einem einig, dass der Nichtwesten sich zunehmend vom Westen emanzipiere, das „unipolare Momentum“ dahin sei und der globale Raum einen „De-Westernisation“-Prozess erleidet.

Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine findet dreißig Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts ein neuer, die ganze Welt umfassender Transformationsprozess statt, der die fünfhundertjährige Weltdominanz des Westens in Frage stellt und viel dramatischer verlaufen wird, als es zurzeit des Untergangs des Sowjetimperiums 1991 geschehen ist. Und dieser Transformationsprozess bewegt sich genau in die umgekehrte Richtung, als es vor gut dreißig Jahre der Fall war.

Der Nichtwesten bzw. die Weltmehrheit löst sich in geradezu atemberaubender Weise von der erdrückenden westlichen Dominanz unter der Führung des US-Hegemonen. Es findet eine Emanzipation des Nichtwestens statt, die mit zunehmendem Verlust der westlichen Weltdominanz und einem wachsenden Einfluss des Nichtwestens einhergeht.

Ein De-Westernisation “-Prozess hat Wen diese Entwicklung genannt. Von der Verwestlichung zur Entwestlichung der Welt !? Eine erstaunliche Entwicklung gut dreißig Jahren nach der Proklamierung des „Endes der Geschichte“! Und so stellen wir erneut mit Erstaunen fest, wie sinnlos es ist, die Zukunft vorwegnehmen zu wollen und der Geschichte einen Sinn zu geben. „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“ betitelte Theodor Lessing einst sein kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges 1919 erschienenes Werk.

Und so bemühen wir uns schon wieder der Geschichte einen Sinn unseren Sinn – zu geben, gefangen in der Logik des Krieges.

2. In einer geostrategischen Sackgasse

Der US-Hegemon befindet sich mit seinen Nato-Bündnisgenossen in einem strategischen Trilemma:

  • Zum einen kann er den Nichtwesten für den gemeinsamen Kampf gegen „die russische Aggression“ in der Ukraine nicht ohne weiteres für sich gewinnen. Zum anderen geht er ein Risiko ein, im Nichtwesten sein Gesicht zu verlieren bzw. Imageverlust zu erleiden, sollte die Ukraine den mit der US-amerikanischen Finanzierung und Waffenlieferungen massiv unterstützten Krieg verlieren. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, dass die Ukraine auf verlorenen Posten steht und keine Chance hat, den Krieg für sich zu entscheiden und die russischen Invasoren aus dem Lande zu werfen.
  • Bestehen die USA – aus welchen Gründen auch immer – weiterhin auf die Fortführung des Krieges, riskieren sie nicht nur eine totale Niederlage der Ukraine mit der Gefahr des Verlustes der ukrainischen Souveränität, sondern auch eine eigene geostrategische Niederlage und eine weitere Erosion der US-Hegemonialordnung.
  • Strebt der US-Hegemon eine friedliche Beendigung des Konflikts an, besteht die Gefahr eines russischen Friedensdiktats, was er nach eigenen Bekundungen unbedingt vermeiden will, weil diese Option ebenfalls unweigerlich zur geostrategischen Niederlage und damit zwangsläufig zur Schwächung der US-dominierten unipolaren Weltordnung führen wird.

Wie auch immer die USA vorgehen werden, stecken sie so oder so in einer geostrategischen Sackgasse. Zu Beginn des Ukrainekrieges sah die Gemengelage noch ganz anderes aus. Bereits drei Wochen nach dem Kriegsbeginn schrieb ich am 16. März 2022: Der Kriegsausbruch in der Ukraine war „zweifellos das gelungenste und seit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979 das erfolgreichste geostrategische Kunststück, das die Biden-Administration vollbracht hat und in die Geschichte der US-amerikanische Geopolitik womöglich als Bidens brillanteste geostrategische Aktion eingehen wird. Nicht nur die Russen, sondern auch die EU-Europäer wurden hier von der Biden- Administration vorgeführt, ohne dass die letzteren dies überhaupt verstanden haben.“3

Der Kriegsverlauf hat uns jedoch eines Besseren belehrt und gezeigt, dass die von Biden- Administration ursprünglich verfolgten Ziele nur bedingt erfolgreich waren und dass wir „Bidens geostrategische Aktion “ nunmehr nicht ohne weiteres als „brillant“ bezeichnen dürfen. Denn es stellt sich heute heraus, dass die Geostrategie der Biden-Administration in eine selbstgestellte Falle tappte. Die US-Geostrategen haben sich, was im Übrigen nicht zum ersten Mal geschieht, verrechnet.

Beim Kriegsausbruch in der Ukraine verfolgten die USA anfänglich ein dreifaches Ziel:

  • Russlands Volkswirtschaft mittels massiver handelspolitischer, finanzieller und monetärer Sanktionen in die Knie zu zwingen und ökonomisch kriegsunfähig zu machen (ein geoökonomisches Blitzkriegsziel );
  • Einen Keil zwischen Europa und Russland zu treiben, um möglichst alle politischen, ökonomischen und nicht zuletzt energiepolitischen Handelsbeziehungen zu unterbinden. Es ging letztlich darum, den „Eisernen Vorhang“ des Ost-West-Konflikts zu reanimieren und eine Abkopplung Russlands von der EU zu erreichen (ein geopolitisches Decoupling-Ziel);
  • Die ganze Welt und insbesondere den Nichtwesten gegen die „russische Aggression“ geoökonomisch und geopolitisch zu mobilisieren und moralisch an den Pranger zu stellen (ein geostrategisches Isolationsziel).

Diese ursprüngliche dreifache Zielsetzung hat sich teils als unerfüllbar und teils nur als bedingt umsetzbar erwiesen. Der ökonomische Blitzkrieg erwies sich ebenso als Flop wie die geostrategische Isolierung Russlands vom Rest der Welt. Russlands ökonomische Resilienz wurde maßlos unterschätzt und die US-amerikanische Weltdominanz maßlos überschätzt.

In einem Punkt hatten die US-Geostrategen einen vollen Erfolg. Es ist ihnen gelungen, die EU- Europäer hinter sich zu scharen und Russland von Europa abzukoppeln. Die Biden-Administration hat erfolgreich nicht nur einen geopolitischen und geoökonomischen Schulterschluss zwischen der EU und den USA im Kampf gegen Russland wie zu Zeiten des Ost-West-Konfliktes feiern dürfen und nicht nur soziale und ökonomische Friktionen in Europa verursacht, sondern Russland auch mit den schwersten monetären, finanziellen und ökonomischen Sanktionen aller Zeiten belegt und dem geopolitischen Rivalen ökonomisch Schaden zugefügt. Wie stark Russlands Wirtschaft dabei beschädigt wurde, darüber streiten die Volkswirte und alle möglichen Experten bis heute.

Zwar ist es den USA gelungen, den Westen zu konsolidieren, um sich zu scharen und zu einer tatkräftigen Einheitsfront gegen die „russische Aggression“ zu bewegen. Dieser zweifelsohne Teilerfolg hat sich aber als Pyrrhussieg herausgestellt. Denn der erzielte Schulterschluss hat vor allem im EU-Wirtschaftsraum erhebliche Schaden angerichtet.

Damit setzte die Biden-Administration im Grunde die geoökonomische Chaosstrategie der Trump-Administration fort. So wie Trumps Hegemonialmerkantilismus geoökonomisch „wie eine Chaosstrategie zur Destabilisierung der Weltwirtschaftsordnung“4 wirkte, so destabilisiert die Biden-Administration mit ihrer Russland- und Ukrainepolitik in höchstem Maße die europäische Sicherheits- und Wirtschaftsordnung zwecks Schwächung nicht nur des geopolitischen Rivalen, sondern auch der Wettbewerbsfähigkeit Europas.

Der Kriegsverlauf hat allerdings die ursprünglichen US-Kriegsziele einerseits verstätigt, andererseits verändert. Das ursprüngliche Ziel, Russland ökonomisch, finanzpolitisch und monetär dergestalt zu schwächen, dass es ökonomisch ausgeschaltet und kriegsunfähig gemacht wird, damit die USA sich ihrem eigentlichen geostrategischen Rivalen China im Kampf um die Aufrechterhaltung ihrer Weltmachtstellung zuwenden können, ist heute unerreichbarer denn je.

Nun setzte sich der US-Hegemon im Kriegsverlauf zum Ziel, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, was nach den anfänglichen Erfolgen der ukrainischen Frühherbstoffensive im September 2022 tatsächlich so ausgesehen hat, als wäre diese Strategie erfolgreicher gewesen. Und man begann im Westen gar vom Sieg der Ukraine in diesem blutigen Konflikt zu träumen, ohne dabei zu präzisieren, was darunter genau zu verstehen ist. Bis heute verbreitet man in den westlichen Medien die frohe Botschaft vom baldigen Sieg der Ukraine, wohl wissend (oder nicht?), dass diese medial zur Schau gestellte Siegesgewissheit mehr Schein als Sein ist.

Und so schlittern die USA und die Nato-Allianz immer mehr und immer tiefer in den Morast des Ukrainekonflikts, ohne die Gegenfrage – sei es aus Machtarroganz oder Selbstüberschätzung – nur stellen zu wollen: Was passiert aber, wenn statt Russland der Westen eine strategische Niederlage erleidet? Offenbar schließt man diese Option (noch) kategorisch aus, um dann nicht eine noch brenzligere Frage beantworten zu müssen: Was tut die Nato-Allianz dann? Es gibt drei denkbare Szenarien:

  • Die Nato verschärft die Konfrontation gegen Russland, die in eine unkontrollierte Eskalation ausarten kann;
  • Die Nato geht Vabanque und nimmt bewusst eine direkte Konfrontation mit Russland in Kauf und riskiert so einen atomaren Schlagabtausch mit apokalyptischen Folgen für alle Seiten;
  • Die Nato zieht sich aus der Ukraine zurück und erleidet so eine geostrategische Niederlage, deren Folgen zur endgültigen Desavouierung der westlichen Vormachtstellung in der Welt führen können.

Keines dieser drei Szenarien kommt für den Westen bzw. die USA in Frage. Eine unkontrollierte oder gar direkte Konfrontation zwischen der Nato und Russland ist „a doomsday scenario that no one wants“ (ein Untergangsszenario, das keiner will), liest man in einem Aufsatz „The Long War in Ukraine“5 für Foreign Affairs vom 9. Januar 2023. Sich aus der Ukraine nach einer solchen massiven Involvierung in den Ukrainekonflikt zurückzuziehen, ist aber auch so gut wie ein Ding der Unmöglichkeit.

Was dann? Der US-Hegemon befindet sich in einer geostrategischen Sackgasse. Denn was passiert, wenn sich die Göttin Fortuna gegen ihn wendet?

Im Ukrainekonflikt besteht eine strategische und militärische Asymmetrie dergestalt, dass die USA zwar – global gesehen – mehr geostrategische Optionen haben, Russland aber mehr militärische Optionen auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz hat und kann darum taktisch viel flexibler reagieren und manövrieren.

Die Drohpose des Westens, Russland für alle Taten und Untaten im Ukrainekrieg zu bestrafen, die russische Führung an Kriegsverbrechertribunal auszuliefern, Kriegsverbrechen zu sühnen usw. usf. ist hohl und praktisch undurchführbar, solange die Nato nach eigenen Bekundungen über die Grenzen des eigenen Machtbereichs nicht hinausgehen will.

Man kann sich zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass die geostrategische Prädominanz der USA, die nach dem Untergang der Sowjetunion entstanden ist und Russland dadurch jahrzehntelang in eine defensive Position gedrängt hat, nunmehr mit dem Ukrainekrieg Kratzer bekommen hat. Der Kriegsausbruch in der Ukraine hat die US-geostrategische Drohkulisse gesprengt und als Fata Morgana bloßgestellt. Der Kriegsverlauf zeigt darüber hinaus, dass Russland seine defensive Haltung endgültig aufgegeben hat und in eine Offensive übergegangen ist.

Damit hat Russland nicht nur selbstbewusst die dreißig Jahre zum eigenen Nachteil andauernde geostrategische Asymmetrie in Frage gestellt und die USA als die europäische Ordnungsmacht herausgefordert, sondern auch gezeigt, dass die militärisch-taktische Asymmetrie in der Ukraine zu Lasten der USA geht. Die strategische Asymmetrie wurde durch die taktische ausgespielt, weil Russland und nur Russland auf dem ukrainischen Boden über eine militärische Eskalationsdominanz verfügt, wohingegen die USA infolge der selbstauferlegten Selbstbeschränkung ihre geostrategische Prädominanz, sollte diese heute noch überhaupt bestehen, nicht ausspielen kann.

Taktik schlägt Strategie, die geostrategische Asymmetrie weicht der russischen Eskalationsdominanz und die jahrzehntelang bestandene geostrategische Prädominanz der USA wurde in den ukrainischen Wäldern entwertet .

So oder ähnlich könnte man die aktuelle Lage beurteilen, in welche die USA ungeachtet der nach wie vor bestehenden US-Vormachtstellung in Europa geraten sind. Das ist ein so nicht voraussehbares Zwischenergebnis des Krieges. Die beiden geopolitischen Rivalen haben Schwächen gezeigt. Russland konnte den Krieg nicht schnell genug für sich entscheiden. Der Grund war zum einen eine ursprünglich verfehlte politische Strategie, die darin bestand, die Gegenseite mit einer schnell durgeführten militärischen Aktion zu Verhandlungen zu zwingen und die Friedensbedingungen zu diktieren. Diese Strategie ist bereits im April 2022 am Widerstand der Angelsachsen, namentlich am britischen Premierminister Boris Johnson , gescheitert.

Zum anderen ist Putin Opfer seiner eigenen Ideologie geworden, welche Russen und Ukrainer als „ein Volk“ betrachtet. Darum nannte er auch sein militärisches Abenteuer nicht Krieg , sondern eine „Militärische Spezialoperation“ (CVO), die er anfänglich als eine beschränkte, Blutzoll minimierende „Polizeiaktion“ konzipierte. Da sich aber diese politisch gewollte und ideologisch induzierte Vorgehensweise militärisch als undurchführbar erwies, hat die russische Führung eine militärische Bauchlandung erlitten.

Diese verfehlte, weil politisch-ideologisch determinierte anfängliche Militärstrategie haben manche westlichen Militärexperten missverstanden und die in den ersten sieben Kriegsmonaten erfolgten militärischen Misserfolge als Russlands Unfähigkeit missinterpretiert, den Krieg des 21. Jahrhunderts führen zu können. Erst sieben Monate nach dem Kriegsausbruch hat die militärisch-politische Führung begonnen, mit einer Teilmobilisierung ihre Militärstrategie radikal zu verändern. Erst danach hat Russland begonnen, den Krieg zu führen, den es anfänglich vermeiden wollte.

Die USA konnten ihrerseits aber auch keinen durschlagenden Erfolg erzielen. Die von der Biden-Administration an und für sich genial ausgeklügelte Geostrategie, Russland in ein militärisches Abenteuer auf dem ukrainischen Boden zu verwickeln und wie der Sowjetunion im Afghanistankrieg eine militärische Niederlage zuzufügen, erweist sich politisch und militärisch ebenfalls als undurchführbar.

Die geostrategische Prädominanz konnten die USA nicht in eine Eskalationsdominanz ummünzen, weil die nukleare Abschreckung der gegenseitigen Vernichtung nach wie vor fortwirkt und den US- Hegemon zur Selbstbeschränkung zwingt, was Russlands militärische Eskalationsdominanz möglich macht. In dieser macht- und militärpolitischen Dysfunktionalität stecken die USA fest.

Für eine weitere US-Russland- und Ukrainepolitik ergeben sich aus dieser geostrategischen Sackgasse mehrere Schlussfolgerungen:

  • Erstens ist die US-geostrategische Prädominanz in Europa passé.
  • Zweitens ist eine denkbare US-amerikanische Eskalationsdominanz auf dem ukrainischen Kriegsschauplatz nicht nur unpraktikabel, sondern widerspricht auch Zielen und Intentionen der US-Geostrategie in Eurasien:
    (a) Ungeachtet der offiziellen Bekundungen streben die USA nicht den Sieg der Ukraine (was auch immer das sein mag), sondern eine dauerhafte ökonomische und militärische Schwächung und demzufolge eine Marginalisierung Russlands als Groß- und Kontinentalmacht6 an.
    (b) Vor dem Hintergrund einer nuklearen Bedrohung können die USA eine Eskalation nicht auf die Spitze treiben, um bloß keine direkte Konfrontation zwischen Russland und der Nato-Allianz zu riskieren.
  • Die Selbstbeschränkung des US-Hegemonen reduziert drittens seine Handlungsoptionen, macht ihn nur eingeschränkt handlungsfähig und seine verbalen Drohgebärden unglaubwürdig.

Diese drei Determinanten bedeuten, dass die USA und ihre Nato-Verbündeten nicht umhinkommen, die westliche Russland- und Ukrainepolitik radikal zu revidieren. Eine Machtentfaltung wird immer von der Möglichkeit und Fähigkeit bestimmt, „mit ihr in einem Konflikt die Grenzen der Konfrontation zu bestimmen, die Eskalation der Feindseligkeiten zu kontrollieren und den Gegner dabei zu beherrschen – also ihm die Bedingungen für die Krisenbeherrschung und gegebenenfalls für die Beilegung des politischen Streits vorzuschreiben.“7

Diese geostrategische Maxime der Machtentfaltung ist für die USA im Ukrainekonflikt keine machtpolitische Option mehr. Trotz der gigantischen Kriegsfinanzierungskosten 2022/23, die sich bis dato schätzungsweise auf 150 Milliarden Dollar beläuft, und ungeachtet umfangreicher Waffenlieferungen darf man sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die USA mit der Nato-Allianz auf dem ukrainischen Boden weder „die Grenzen der Konfrontation“ bestimmen noch die Eskalation kontrollieren noch „die Bedingungen für die Krisenbeherrschung“ diktieren oder die politischen Rahmen zur Beilegung des Konflikts vorschreiben können.

3. Die Grenzen des Casus belli

Die eingeschränkte, weil selbstbeschränkte Handlungsfähigkeit der USA im Ukrainekonflikt wirft die Frage nach einer anderen US-Russlandpolitik auf. Und hier kommen wir auf die strategischen Diskussionen des „Kalten Krieges“ zurück. Da fällt zunächst die „counter-force strategy“, wie der US-Verteidigungsminister Robert McNamara sie in den Jahren 1961 bis 1965 konzipierte und „wie sie Schlesinger unter vollkommen veränderten Bedingungen – nach dem Verlust der amerikanischen Kernwaffensuprematie – 1973/1974 in der abgeschwächten Spielart erweiterter >counter-force options< wiederaufnahm.“8

McNamaras Strategie zielte auf die US-Fähigkeit ab, die Risiken des Rivalen höher zu halten als die eigenen zu jeder Zeit des Konflikts, um ihm nicht die Initiative zur Konfliktentscheidung zu überlassen. Der Rivale dürfte nicht die Mittel haben, die Dimension des Konfliktes zu seinem Vorteil zu bestimmen, die Eskalation zu beherrschen und „so die Bedingungen zu diktieren oder wesentlich zu beeinflussen.“

Der Sinn der „counter-force strategy“ bestand in der US-Fähigkeit, die Krisen zu beherrschen und die Sowjets einzudämmen, ohne dabei – was wichtig zu betonen ist – die Grenzen der sowjetischen Sicherheitsinteressen zu überschreiten. „In diesem Sinne diente das offensive Konzept der >counter-force strategy< einer Status-quo-Politik der USA“, was de facto die „Grundlage der friedlichen Koexistenz im gegenseitigen Abschreckungsverhältnis“ geschaffen hat.

„Der politische Nutzeffekt strategischer Überlegenheit“ schrumpfte aber gleichzeitig – resümierte Lothar Ruehl – „auf dem Felde der politischen Drohmanöver auf null zusammen“ und damit verlor „die strategische Kernwaffenstreitmacht ihre Beweglichkeit“ bzw. „ihre Einsatzfähigkeit im Verfolgen politischer Interessen, welche auf eine Status-quo-Veränderung gerichtet sind. Sie kann dann immer noch der Status-quo-Verteidigung dienen, solange und soweit dieser Status quo mit den vitalen Sicherheitsinteressen der Nuklearmacht zusammenfällt.“9

Wendet man sich vor diesem Hintergrund der Gegenwart zu, so stellt man schnell fest, dass der Hauptauslöser des Ukrainekonflikts geostrategisch in fundamental unterschiedlichen Machtinteressen der Kontrahenten bestand. War die US-Geostrategie auf eine (offensive) Status-quo-Veränderung gerichtet, die nicht mit den vitalen US-Sicherheitsinteressen , wohl aber mit der Erweiterung der US-Einflusssphäre zusammenfiel, so fiel Russlands (defensive) Status-quo- Verteidigung mit seinen vitalen Sicherheitsinteressen zusammen. Selbst so ein Hardliner wie Robert Kagan (Brookings Institution) gab neuerlich unumwunden zu, „that Ukraine is not important for this country’s defense. Kagan was categorical: >There is no way that Putin’s conquest of Ukraine has any immediate or even distant effect on American security<.”10

Es bestand, anderes formuliert, eine grundlegende, jedweden Kompromiss von vorn herein ausschließende geostrategische Disparität der Machtinteressen , welche den Konflikt zwischen Russland und den USA auf dem ukrainischen Boden unausweichlich gemacht hat. War die Status-quo Veränderung für die USA grundsätzlich verzichtbar , weil sie die vitalen US-Sicherheitsinteressen substantiell in keinerlei Weise tangierte, so war für Russland die Status-quo-Verteidigung ganz im Gegenteil unverzichtbar , weil sie existentiell , wenn nicht gar obsessiv – „mit den vitalen Sicherheitsinteressen der Nuklearmacht“ zusammenfiel. Diesen Gordischen Knoten konnte – wie man sieht – nur im blutigen Konflikt gelöst werden.

Was ist aber, wenn dieser an und für sich regionale Konflikt zum Präzedenzfall wird und im Nuklearzeitalter für die Lösung globaler Krisen zwischen den Nuklearmächten Schule macht? Geraten wir dann nicht in eine ausweglose Lage, in der allein die Logik des Krieges vorherrscht und die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock ) keine Grenzen mehr kennt?

Diese Kriegslogik führt ins Nirgendwo ! Zu Ende gedacht, führt sie entweder zu einer gesicherten gegenseitigen Vernichtung oder entpuppt sich als bloße Drohgebärde, da sich die beiderseitigen Kernwaffenpotentiale im Falle gesicherter Zweitschlagfähigkeit des Machtrivalen – der Gegenmacht – einander politisch und militärisch als Instrumente neutralisieren.11

Vor diesem Hintergrund hat McNamara mit seiner Konzeption einer „counter-force strategy“ den Versuch gemacht, „die Macht der nuklearen Waffen für die Politik in der Krise einsatzfähig zu erhalten. Sein Ziel war es, der sowjetischen Gegenmacht … das Handeln in der Krise vorzuschreiben, das heißt, sie im Konflikt zu beherrschen. In letzter Konsequenz bedeutete diese Maxime amerikanischer Machtpolitik mit Kernwaffen, dass die USA mit ihrer strategischen Kernwaffensuprematie die Sowjetunion … auf die Grenzen ihrer nationalen Sicherheit, bestimmt durch die Bedingungen ihrer Überlebensfähigkeit, zurückdrängen und an der äußeren Machtentfaltung hindern sollten. Die Maxime beruhte auf einer politischen Ordnungsvorstellung, die eine anerkannte und schutzwürdige Legitimität der internationalen Ordnung und der mit ihr gegebenen Machtverteilung voraussetzte.“12

Auf die aktuelle Krise um die Ukraine bezogen, bedeutet McNamaras Konzeption einer „counter-force strategy“ Russland das Handeln in der Krise mittels der US-Kernwaffensuprematie vorzuschreiben und das heißt, es auf die Grenzen seiner „nationalen Sicherheit“ zurückzudrängen und so „an der äußeren Machtentfaltung“ zu hindern. Dieses Konzept wirkt heute nicht!

Die USA besitzen heute weder eine strategische Kernwaffensuprematie noch eine geostrategische Prädominanz, die es ihnen ermöglicht hätten, Russlands Machtentfaltung in der Ukraine zu verhindern. Mit Kriegsfinanzierung und Waffenlieferungen kann der US-Hegemon Russlands Machtentfaltung bestenfalls ausbremsen bzw. gewisse taktische Erfolge erzielen, aber nicht stoppen.

Was Russland angeht, so verfolgt die russische Führung in Anbetracht einer konventionellen und ökonomischen Überlegenheit des Westens eine doppelgleisige Strategie der nuklearen Abschreckung und einer Wiederherstellung des Machtgleichgewichts in Europa und Eurasien. Russland geht es in diesem Konflikt nicht so sehr um Revanchismus oder Neoimperialismus, wie allerseits mantraartig behauptet wird, als vielmehr um die Rückgewinnung der strategischen Initiative , um all diejenigen in die Schranken zu weisen, welche die vitalen Sicherheitsinteressen der Nuklearmacht Russland in eklatanter Weise verletzen und so die strategische Stabilität und Machtbalance in Europa und Eurasien gefährden wollen.

Und was die russische Strategie der nuklearen Abschreckung angeht, so ist das kein Bluff und muss ernstgenommen werden, worauf Doug Bandow neuerlich in seinem Artikel „Weighing a Nuclear Treat“ zu Recht hingewiesen hat. „Washington sollte die Bedrohung ernstnehmen und das Angriffsrisiko minimieren“ (Washington should take the treat seriously and minimize the risk of attack), warnt Bandow bereits im Untertitel seines Artikels.13

Die Tragik der Situation besteht ja gerade darin, dass die beiden Seiten keine strategischen Optionen mehr besitzen, um einen Modus Vivendi auf einem friedlichen Wege zu erzielen, wohl wissend, dass sie die strategische Stabilität nicht außer Acht lassen dürfen. Handeln die USA bis dato aus der Offensive heraus, im Glauben immer noch – wenn nicht eine strategische Kernwaffensuprematie, so doch – eine geostrategische Prädominanz zu besitzen, so agiert Russland aus der defensiven Position heraus ohne jedwede strategische Option, seinen Willen der Gegenseite aufoktroyieren zu können.

Das bedeutet aber im Endeffekt, dass die beiden Nuklearmächte sich wie zurzeit des Ost-West- Konfliktes gegenseitig neutralisieren. Soll diese strategische Pattsituation dergestalt auf die Spitze getrieben werden, dass die USA auf eine Status-quo-Veränderung weiterhin kompromisslos beharren, dann kann im äußersten Falle eine nukleare Kettenreaktion auslösen, was jede Seite eigentlich zu ver-meiden vorgibt.

Und sollten sich die US-Geostrategen doch McNamaras „counter-force strategy“ zu eigen machen, so müssen sie sich darüber im Klaren sein, dass McNamaras „Konzept begrenzter nuklearer Kriegsführung“14 nicht funktionieren wird. Denn es ist ein Wunschdenken zu glauben, dass der Nuklearkrieg begrenzt werden könnte.

Vor dem Hintergrund dieser strategischen Pattsituation ist die gegenwärtige Konfrontation zwischen Russland und den USA einerseits viel gefährlicher als zurzeit des „Kalten Krieges“. Andererseits ähnelt sie den Ost-West-Beziehungen gegen Ende der 1960er-/Anfang der 1970er-Jahre, als „die traditionelle Eindämmungstheorie“ eine „diplomatische Pattsituation herbeigeführt“ hat.15

An die Macht gelangt, leitete das Nixon/Kissinger-Gespann eine neue US-Außenpolitik ein. Die sog. Nixon-Doktrin ging von einem realpolitischen und ideologiefreien Leitgedanken aus, dass die Verfassungsordnung der Großmächte als legitim erachtet und deren Existenz getreu dem Motto anerkannt wird: „Nicht der Kommunismus, sondern die internationale Anarchie sei die größte Gefahr“.16

Vor diesem Hintergrund formulierte Nixon seine Doktrin, der drei um den Begriff des Friedens zentrierten Maximen zugrunde gelegt wurden, die die US-Außenpolitik prägen sollten: Partnerschaft – Stärke – Verhandlungsbereitschaft. Der Frieden sei zwar nicht alles, ohne Frieden sei aber alles nichts.

Die auf Partnerschaft, Stärke und Verhandlungsbereitschaft basierende Vision von Frieden ist wie ein roter Faden, der sich durch Nixons Bericht an den Kongress vom 18. Februar 1970 über die amerikanische Außenpolitik für die 1970er-Jahre zieht.

Diese „Vernunft des nuklearen Friedens“ (zurzeit des Kalten Krieges) scheint heute vergessen bzw. irrelevant geworden zu sein. Die Zeiten haben sich geändert. Der Triumphalismus des Westens kennt nach der „siegreichen“ Beendigung des Ost-West-Konflikts immer noch keine Grenzen. Die bipolare Weltordnung, in der die Supermächte noch „in den Abgrund“ schauten und darin „die Trümmer ihrer eigenen Existenz“ sahen, gibt es nicht mehr. Das „aus Furcht und Vernunft“ entstandene bipolare System, das Raymond Aron in Worte fasste: >Friede unmöglich, Krieg unwahrscheinlich<, erzwang „den langen nuklearen Frieden“.17 Nixons Entspannungspolitik hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet.

Heute steht der Frieden offenbar nicht mehr ganz oben auf der Prioritätenliste der US-Außenpolitik. Sind die USA vielleicht zu selbstsicher und zu übermütig geworden? Wollen sie keinen „langen Frieden“ mehr? Wohl kaum! Die Gründe liegen woanders. Die USA haben heute die Sorge vor einem langfristigen Trend, der die US-dominierte unipolare Weltordnung erodieren lässt. Mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine hat sich dieser Erosionsprozess sogar beschleunigt. Man sieht das deutlich am Unwillen des Nichtwestens, sich dem westlichen Sanktionskrieg gegen Russland anzuschließen.

Diese Sorge überlagert jede Angst vor einer Weltfriedensgefährdung und macht die USA umso mehr ideologisch, geoökonomisch und neuerdings militärisch aggressiv, je weniger sie fähig und in der Lage sind, sich auf eine direkte Konfrontation gegen die Nuklearmacht Russland einzulassen. Sollten die USA allerdings die vitalen Sicherheitsinteressen Russlands weiterhin missachten und ohne Sinn und Verstand nach wie vor beharrlich ignorieren, dann wird das irgendwann zur Grenzüberschreitung führen und letztendlich den Casus belli auslösen.

An echten Verhandlungen, die weder anmaßende noch oberlehrerhafte Belehrungen sind, führt darum kein Weg vorbei. Weder das „moralische Athletentum“ noch ein „steriler Moralismus“, sondern „Subtilität und Realismus“ sowie die „außenpolitische Selbstbeschränkung“ und „deideologisierte Sachlichkeit“18 sind mehr denn je gefragt. Aber genau dieser Weg ist heute versperrt. Heute müssen wir vielmehr – Raymond Aron paraphrasierend – irritiert konstatieren: >Friede unmöglich, Krieg wahrscheinlich<.

Anmerkungen

1. Zitiert nach Arendt, H., Macht und Gewalt. München Zürich 1985, 7.
2. Aron, R., Der permanente Krieg. Frankfurt 1953, 234.
3. Silnizki, M., Das friedlose Europa. Zum Scheitern der europäischen Sicherheitsordnung.16. März 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 70.
5. Ivo H. Daalder/James Goldgeier, The Long War in Ukraine. The West Needs to Plan for a Protracted Conflict With Russia. Foreign Affairs, 9. Januar 2023.
6. Silnizki, M., Putins Kontinentalmachtstrategie. Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik. 25. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
7. Ruehl, L., Machtpolitik und Friedensstrategie. Einführung General Steinhoff. Hamburg 1974, 259.
8. Ruehl (wie Anm. 7), 259 f.
9. Ruehl (wie Anm. 7), 260.
10. Zitiert nach Doug Bandow, Weighing a Nuclear Treat. Washington should take the treat seriously and minimize the risk of attack. The American Conservative, 19. Januar 2023.
11. Vgl. Ruehl (wie Anm. 7), 261.
12. Ruehl (wie Anm. 7), 261.
13. Bandow (wie Anm. 10).
14. Ruehl (wie Anm. 7), 263.
15. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 784, 788.
16. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 108.
17. Stürmer, M., Vernunft des nuklearen Friedens scheint vergessen, 16.09.2014.
18. Hacke, Ch., Die Ära Nixon-Kissinger 1969-1974. Klett-Cotta 1983, 16 f., 24, 42, 123.

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