Verlag OntoPrax Berlin

Im Strudel der Macht und Ohnmacht

Gedanken und Reflexionen

Übersicht

1. Im Spannungsfeld zwischen Ohnmacht und Allmacht
2. „Inter pacem et bellum nihil medium“
3. Im Schatten der Universalideologie

Anmerkungen

„Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kommt zu gar
keiner Wirklichkeit, sondern er verbleibt im
Abstrakten und verglimmt in sich selbst.“
(Hegel)

1. Im Spannungsfeld zwischen Ohnmacht und Allmacht

Mit dem Titel „Selige Sehnsucht“ hat Goethe sein 1817 veröffentlichtes Gedicht versehen, das von einem Schmetterling handelt, der vom Glanze der brennenden Kerze angezogen ins Licht fliegt und dort verbrennt1:

„Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend’ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.
……………………………………
Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du Schmetterling verbrannt.
Und so lang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.“

„Stirb und werde!“ Stirb und werde unsterblich, will Goethe uns sagen. Als hätte er Euripides` Reim im christlichen Kontext deuten wollen: „Wer weiß, ob nicht das Leben nur ein Sterben ist – das Sterben aber Leben?“ Wer`s glaubt, wird selig (Markus 16,16).

Werde wie Leviathan – „der sterbliche Gott“ – und du wirst allmächtig, predigt die Neuzeit. Wie Goethes Schmetterling, der nach dem Flammentod sehnend ins Licht fliegt und dort verbrennt, streben wir nach der Macht, laufen dabei Gefahr, uns die Finger daran zu verbrennen. Wie besessen trachten wir immer und immer wieder nach der Macht und noch mehr Macht, um sich im grellen Lichte der Macht zu sonnen und bloß nicht „nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde“ zu bleiben.

Und sollten wir keine Macht errungen haben, so verlangen wir wenigstens Freiheit und Gerechtigkeit, was letztlich – wie Nietzsche uns einst belehrte – auf ein und dasselbe hinausläuft: „Man will Freiheit, solange man noch nicht die Macht hat. Hat man sie, will man Übermacht; erringt man sie nicht …, will man Gerechtigkeit, d. h. gleich Macht.“1

„Alle streben nach der Macht und alles drehe sich um die Macht“, grübelt der Machtlose. Von Glanz und Gloria der Macht fasziniert und angezogen, versucht auch er ein Stück davon zu ergattern, wird aber brüsk abgewiesen. Verächtlich erwidert die Macht: „Du kriegst mich nie“, woraufhin der Machtlose eingeschüchtert und kaum hörbar fragend murmelt, ob er sie vielleicht später erhalten könnte. „Weder möglich noch wahrscheinlich“, antwortet die Macht.

Im Bewusstsein der eigenen Ohnmacht lechzt er nunmehr nach Rache und Gerechtigkeit. Vergeblich! Alle Versuche scheitern. Die Macht erweist sich mächtiger als die Ohnmacht. Nach vielen vergeblichen Versuchen bekommt der Machtlose noch mehr Ehrfurcht vor der Macht, tröstet sich aber damit, dass die wahre Ohnmacht die Machtlosigkeit der Macht sei.

Von dieser „Erkenntnis“ ergriffen, redet er sich ein, er sei mächtiger als die Macht. Denn er sei wenigstens seiner Ohnmacht bewusst und erkenne in seiner Machtlosigkeit die Macht als Freiheit zur Ohnmacht. Wieso hat keine(r) aber gemerkt – grübelt der Machtlose erneut -, dass die wahre Macht die eigene Ohnmacht sei? Ratlos blickt er ehrfurchtvoll zu der Macht, ohne eine Antwort darauf zu bekommen. Resigniert stellt er schließlich fest, seine „Erkenntnis“ sei eine Illusion und seine Macht sei allein die Freiheit zur Ohnmacht. Und so am Boden zerstört, „verglimmt er in sich selbst“ voller Ehrfurcht vor der Macht.

Was folgt nun aus dieser imaginären Geschichte? „Gib dem Cäsar, was des Cäsars ist, und Gott, was Gottes ist“!? Gib die Macht den Mächtigen und die Ohnmacht den Ohnmächtigen? Nein, daraus folgt etwas ganz anderes. Macht und Ohnmacht sind wie Zwillinge: Sie teilen gemeinsam die Gier nach Leben und Überleben. Nun hat die Lebensgier das merkwürdige Phänomen, uns ständig in Unruhe und Aufruhr zu versetzen. Sie lässt uns nicht los, beherrscht unseren Willen vollständig und reißt ihn aus der gewohnten Lebensbahn.

Diese Lebensgier bestimmt „die Stellung des Menschen im Kosmos“ (Max Scheler), die ihrerseits vom Lebensdiktat der Macht abhängt und bestimmt wird. Im Lebensdiktat der Macht prägen sich die Grundstrukturen des Daseins, unter welchen Macht und Ohnmacht ihre Deutung und ihre Sinngebung erfahren. Die beiden entwerfen sich selbst ihr eigenes Weltbild, auf das sie sich stützen, um die jeweiligen Lebensvorstellungen bestimmen und durchsetzen zu können.

Das Lebensdiktat der Macht formt sich im innen- und außenpolitischen Prozess der Konfrontation und Kooperation stets neu, und ist das Ergebnis eines selbst- und/oder fremdentworfenen Weltbildes, außerhalb dessen weder die Welt noch das Bild existiert. Sollte es eine universale Geltung beanspruchen, so stellt es alle anderen Welt- und Lebensentwürfe in Frage und strebt nach Macht und immer mehr Macht, um sein einzig „wahres“ Weltbild durchsetzen zu können. Und diese Machtsteigerung kennt keine Grenzen: Macht – Übermacht – Supermacht – Hegemonialmacht – Allmacht!

Das führt aber letztlich zur Konfrontation und Eskalation. Nichts ist aber so gefährlich wie die Überschätzung der Fähigkeiten und Möglichkeiten der eigenen Macht, die sich schnell auch als Ohnmacht herausstellen kann. Die alten Griechen wussten, wovon sie reden, als sie die Inschrift am Eingang des Tempels von Delphi platzierten: „Erkenne dich“ (Γνῶθι σαυτόν), dass du ein Sterblicher bist, und maß dir nicht an, wie Götter des Olymps unsterblich und allmächtig zu sein.

2. „Inter pacem et bellum nihil medium“

Der Mensch des 21. Jahrhunderts ist eingespannt in die Zwänge universaler Abstraktionen und virtueller Realitäten, hinter denen sich die geopolitischen und geoökonomischen Machtstrukturen verbergen, die unser Denken und Handeln prägen, ohne dass wir dessen bewusst sind.

Unsereiner lebt unbedarft in einem Machtsystem, in das er ungefragt geboren wird und dem er ungewollt lebenslang ausgeliefert ist, bis er irgendwann im Verlauf des Zeitlichen feststellt, wie sehr er davon abhängt und wie wenig er davon versteht. Vergeblich hofft er dem Machtdiktat entkommen zu können, ohne dabei zu begreifen, wie sehr er sich längst jenem Diktat unterworfen hat, dem er doch vergeblich zu entkommen hoffte.

Macht ist wie ein Spiel durch ihren Scheincharakter bestimmt und wie ein Leben durch ihr Handeln geprägt. Als Spiel ist sie die Wirklichkeit einer unwirklichen, der Realität entrückten Scheinwelt, als Handeln die Wirklichkeit der (in der Zukunft liegenden) Unwirklichkeit. In dieser Dualität von Spiel und Handeln, Virtualität und Wirklichkeit, virtueller und unmittelbarer Realität etabliert sich Macht als Lebenssystem.

Es gibt keinen Lebensraum, der kraft seiner Existenz ausgeschlossen wäre, von der Macht domestiziert zu werden, und keinen Machtraum außerhalb des Lebens. Je hilfsbedürftiger das Leben ist, umso kraftvoller tritt das Lebenssystem der Macht in Erscheinung; je größer die Lebensangst und Lebensnot sind, desto mächtiger ist das Lebensdiktat der Macht.

Wer seine unmittelbare Realität allein zum Maß aller Dinge macht, der verkennt den Machtdualismus und dem entzieht sich die Erkenntnis, dass die virtuelle Realität heute maßgeblich unser Weltbild bestimmt, unsere Vorstellungen von der Wirklichkeit prägt, unsere Meinungsbildung beeinflusst und das Meinende (δόξα) für das Wahre erklärt. Wer über diese virtuelle Realität verfügt, hat auch die Macht über uns. „Über das, was wahr und was bloße Meinung, nämlich Zufall und Willkür sein soll, entscheidet nicht, wie Ideologie es will, die Evidenz, sondern die … Macht, die das als bloße Willkür denunziert, was mit ihrer eigenen Willkür nicht zusammenstimmt“ (Adorno).2

Für Aristoteles` Wahrheitsbegriff (ἀλήθεια) ist hier kein Platz mehr. „Wahr“ ist heute, was die Macht uns als „Realität“ erklärt und was „bloße Meinung“ mehrheitsfähig macht. Es ist darum schwierig – wenn nicht gar unmöglich – die Wirklichkeit zu verstehen, wenn die virtuelle Realität uns davon abhält, sie zu verstehen. Und so bleiben wir im Ungefähren, sind verwirrt und können oft zwischen dem, „was wahr und was bloße Meinung“ ist, nicht unterscheiden, da die virtuelle Realität uns nach Orwells Gusto stets suggeriert:

„Krieg ist Frieden;
Freiheit ist Sklaverei;
Unwissenheit ist Stärke.“

Ist Krieg wirklich – wie Carl von Clausewitz` vielzitierter Spruch besagt – „die bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ oder vielmehr das Versagen – wenn nicht gar die Vernichtung – jeder Politik und Diplomatie? Und ist der Frieden – wie Carl Schmitt zurzeit des ihm verhassten Versailler Friedensvertrages Clausewitz` Spruch umformulierte – „eine Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln“3? Wo befinden wir uns heute in Europa: in einem Kriegszustand, einem Friedenszustand oder womöglich einem Zwischenzustand? „Inter pacem et bellum nihil medium“.

Gibt es wirklich keinen Zwischenzustand zwischen Krieg und Frieden? „Dieses >nihil medium<“ – sinnierte Carl Schmitt einst – ist „gerade die Situationsfrage. Es müsste also vorher gefragt werden, ob es denn in der gegebenen Sachlage wirklich kein Drittes gibt. Eine solche Zwischenmöglichkeit und Zwischenlage zwischen Krieg und Frieden wäre natürlich eine Abnormität, aber es gibt eben auch abnorme Situationen.“4

Heute würde man statt situativen Denkens lieber von einer virtuellen Wahrheit sprechen, die jederzeit gedeutet und umgedeutet werden kann. Die Wirklichkeit wird derart virtualisiert, dass der Westen heute zwischen Krieg und Frieden gar nicht unterscheiden will, um bloß im Falle des Ukrainekonflikts nicht in Verlegenheit zu kommen, die Frage beantworten zu müssen, ob er Teil des Problems oder Teil der Lösung, ein Kriegstreiber oder ein Friedensapostel ist.

Dies vorausgeschickt, verfolgt der Westen nach eigenen Beteuerungen einzig und allein ein „hehres“ und „erhabenes“ Ziel: mit mehr und noch mehr Waffenlieferung und Kriegsfinanzierung „die russische Aggression“ zu beenden bzw. den Frieden zu schaffen. Zugleich aber sieht er sich nicht als Kriegsteilnehmer. Befindet der Westen sich also im „nihil medium“, einem Zwischenzustand zwischen Frieden und Krieg oder doch nicht?

Bereits Carl Schmitt hatte Schwierigkeiten die Frage zu beantworten. Die Alternative von Krieg und Frieden bedeute, dass „alles Rechtsvermutung und juristische Fiktion“ werde. „Alle Versuche, eine Definition des Krieges zu geben, müssen in dieser Lage in einem ganz subjektivistischen und voluntaristischen Dezisionismus enden.“5

Und genau darin besteht das Problem. Den Status der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen bestimmen wir nach Belieben ganz im Sinne des „voluntaristischen Dezisionismus“: Mal nennen wir ihn einen „hybriden Krieg“. Mal sprechen wir von der legitimen militärischen und finanziellen Unterstützung des angegriffenen Landes. Und es sei gut und richtig, einen „friedlichen“ Sanktionskrieg gegen den Aggressor zu führen, der zwar eine feindliche Aktion, aber eben keine militärische Konfrontation bedeute. Und die Feindschaft, der animus hostilis, sei eben kein Krieg im eigentlichen Sinne.

Und so bleiben wir immer wieder im Ungefähren, obschon der Krieg in Europa weder abstrakt noch virtuell, sondern ziemlich real stattfindet und wir längst Teilnehmer, Förderer und Antreiber dieser Realität geworden sind, ohne sich als Kriegsteilnehmer definieren zu wollen. Diese Virtualisierung der Wahrheit, die sich auf nichts festlegt, zugleich aber sich (fast) alles erlauben will, ist bedenklich, entsteht doch die akute Gefahr einer unkontrollierten Eskalation.

Diese Gefahr weist der Westen zwar weit von sich, kombinieren sich hier die westliche Machtarroganz und der unverwüstliche Glaube an die eigene moralische Überlegenheit mit einer jahrhundertelangen westlichen Weltdominanz. Die Beliebigkeit des Denkens und Handelns erweist sich aber immer mehr als eine selbstgestellte Falle. Die eigene Macht überschätzend und von der eigenen Siegesgewissheit berauscht, ignoriert der Westen beharrlich die dramatischen geopolitischen Verschiebungen im globalen Raum, die seit dem Kriegsausbruch in Europa nicht mehr zu übersehen sind.

Ohne das gemerkt zu haben, öffnete er die nichtwestliche „Büchse der Pandora“. Der Westen bleibt der Gefangene seiner im Grunde seit Kolonialzeiten nie überwundenen und bis dato verborgen gebliebenen moralischen Überlegenheit. Das zeigt sich immer noch und immer wieder am westlichen Geltungsanspruch, seine „universalen Werte“ der ganzen Welt oktroyieren zu wollen.

Der Westen muss dabei nur aufpassen, dass ihm das Schicksal von Goethes Schmetterling nicht widerfährt, der in seiner Ahnungslosigkeit vom Glanze der brennenden Kerze angezogen ins Licht fliegt und dort verbrennt.

3. Im Schatten der Universalideologie

„Wie viele Menschenleben wären gerettet worden, hätte die westliche Hegemonie nicht den Namen der internationalen Gemeinschaft usurpiert, sondern sich an das kodifizierte Recht derselben gehalten. Auch um die spezifische Verbindung von Demokratie und Recht … ist es seit langem schlecht bestellt“, empörte sich Ingeborg Maus6 bereits 2004.

Dass die „westliche Hegemonie“ den Namen der internationalen Gemeinschaft „usurpiert“ hat, ist keine überraschende Erkenntnis, weist sie lediglich auf den fortgesetzten Anspruch des Westens hin, im Namen der eigenen Universalideologie den globalen Raum dominieren zu wollen. Diesem Anspruch wird der Westen aber unter der Führung des US-Hegemonen immer weniger gerecht. Die geopolitische Realität entzieht heute der „westlichen Wertegemeinschaft“ immer mehr und immer lauter diese Legitimationsgrundlage. Der geostrategische Machtkampf um die Ukraine ist der beste Beweis hierfür. Er hat eine Entwicklung in Gang gesetzt, welche Freund wie Feind überraschte:

Zum einen hat der Nichtwesten von den feinseligen Spannungen zwischen Russland und dem Westen profitiert, weil die beiden Rivalen in ihrem erbitterten Machtkampf gegeneinander die Unterstützung der nichtwestlichen Länder erwarteten. Im Bewusstsein dieses ziemlich unerwarteten Machtzuwachses ist der Nichtwesten zum geopolitischen Leben erweckt und dieses geopolitisches Erweckungserlebnis ist ihm nicht mehr wegzunehmen. Der Westen glaubte anfänglich, dass er den Nichtwesten in alter Kolonialherrenmanier wie selbstverständlich auf seine Seite ziehen würde. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass der Nichtwesten sich entweder neutral verhält und vorsichtig agiert oder sich zur großen Überraschung eher auf die russische als auf die westliche Seite schlägt.7 Der Westen stellt seinerseits ebenfalls zur eigenen Überraschung fest, wie wenig er den Nichtwesten beeinflussen oder einschüchtern kann und wie sehr sein Druck auf die nichtwestlichen Länder verpufft.

Zum anderen hat sich der Westen mit seinem Sanktionskrieg gegen Russland verkalkuliert. Einerseits hat er mit der Gefolgschaftsverweigerung des Nichtwestens nicht gerechnet. Vielmehr ging er wie selbstverständlich davon aus, dass die ganze Welt gegen die „russische Aggression“ aufbegehrt. Das war eine geopolitische Fehleinschätzung. Andererseits hat sich – was noch schlimmer ist – herausgestellt, dass der Finanz- und Währungskrieg gegen Russland die monetäre Übermacht und das gesamte westliche Finanz- und Währungssystem des Westens mittel- bis langfristig gefährden kann. Denn je länger der Sanktionskrieg dauert, „desto mehr werden nichtwestliche Länder Wege zur Abwicklung von Zahlungen außerhalb des westlichen Finanzsystems finden.“8

Der Westen befindet sich nach wie vor in einem ideologisch geleiteten und geopolitisch sich selbst legitimierenden Kreislaufsystem: Er stellt zunächst – von dem eigenen Wertsystem ausgehend – universal-axiologische, für den globalen Raum gelten sollende Postulate auf, auf deren Grundlage die geopolitische Realität und Rivalität wahrgenommen und gedeutet wird. Von dieser so wahrgenommenen und gedeuteten Perspektive leitet er sodann einen sich selbst legitimierenden Geltungsanspruch auf die weltweite Missionierung seiner als „universal“ postulierten, „westlichen Werte“ zwecks Durchsetzung der eigenen Machtinteressen ab.

Dieser ideologisch selbstlegitimierende und geopolitisch fundierte Geltungsanspruch provoziert naturgemäß eine ideologische Konfrontation, um einen geopolitischen Rivalen mittels der axiologischen Anschuldigungen und Beschuldigungen zu geopolitischen und geoökonomischen Zugeständnissen aller Art zu bewegen. Kommt es nicht dazu, werden die ideologischen Angriffe eskalierend fortgesetzt.

Bleiben auch diese Angriffe ergebnislos, werden sie intensiviert, sanktionierend und drohend bis auf die Spitze getrieben, gerechtfertigt mit einer universalideologisch und völkerrechtlich verklärten, noch rigoroseren Deutung der geopolitischen Realität, was wiederum zur Verschärfung und Verhärtung der geopolitischen Konfrontation führt. Und so dreht sich alles immer wieder und immer weiter im Kreis, aus welchem der Westen einen Ausweg weder finden kann noch will.

Er verbeißt sich in der trügerischen Hoffnung, er allein könne von sich aus den Menschen geben, was die Lebenswirklichkeit ihnen versagt. Der Traum von einer globalen Dominanz in der von „Unfreiheit“ und „Tyrannei“ befreiten Welt mutiert dann letztlich zu einer innenpolitisch motivierten Selbstlegitimation des eigenen Wertsystems, woran sich im Übrigens die ganze Fragwürdigkeit des eigenen axiologischen Selbstverständnisses offenbart. Der im globalen Raum herrschen wollende und ja herrschen sollende, als „absolut“ gesetzte westliche Universalideologie ist ein säkularisiertes Konstrukt der Schöpfungsgeschichte, das sich zwischen Idealität und Realität des globalen Raumes schiebt und diesen fingiert.

Die Ironie der Geschichte ist aber, dass der Nichtwesten, der vom Westen zu seinem Glück getrieben werden sollte, gar nicht beglückt werden möchte, weil er kraft seines eigenen geopolitischen und geoökonomischen Selbstverständnisses existieren will und kann. Darum reagiert er oft gereizt auf die westlichen Pressionen, sich dem Sanktionskrieg gegen Russland anzuschließen. Es wird immer deutlicher, dass der Westen mit seiner universalideologisch geleiteten Außenpolitik dem Rest der Welt auf die Nerven geht und immer mehr Widerspruch provoziert.

Lauter Selbstverblendung und von der eigenen moralischen Überlegenheit und der militärischen Omnipotenz überzeugt, läuft die westliche Außen-, Welt- und Geopolitik Gefahr, einen Weltbrand auszulösen. Dann, ja dann werden wir alle zu den unschuldigen Schmetterlingen, die vom Inferno der brennenden Welt erfasst werden und dort verglühen.

Anmerkungen

1. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Nr. 784.
2. Adorno, Th. W., Meinung – Wahn – Gesellschaft, in: ders., Eingriffe. Frankfurt 2003, 147-172 (153).
3. Schmitt, C., „Inter pacem et bellum nihil medium“ (1939), in: ders., Frieen oder Pazifismuds? Hrsg. v. Günter Maschke. Berlin 2005, 629-641 (631).
4. Schmitt (wie Anm. 3), 631.
5. Schmitt (wie Anm. 3), 632.
6. Maus, I., Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Zur Kritik juridischer Demokratieverhinderung, in: Blätter f. deutsche u. internationale Politik 7 (2004), 835-850 (835).
7. Näheres dazu Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland vor dem Hintergrund des Ukrainekrieges. Am Scheideweg zwischen dem Westen und dem Nichtwesten. 19. September 2022, www.ontopraxiologie.de.
8. Dieter, H., Die Irrtümer der Sanktionsbefürworter, in: Internationale Politik 6 (2022), 70 f.

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