Verlag OntoPrax Berlin

Im Würgegriff der Gewalt

Wider Apologie der „Weltgewaltordnung“

Übersicht

1. Zur Deutungsmacht der Leitmedien
2. Zur moralischen Rechtfertigung einer „ordnenden Gewalt“
3. Gewaltordnung versus Rechtsordnung

Anmerkungen

„Die Geschichte ist der Mythos der bewussten Menschheit
und der Krieg ihr blutiges Ritual.“
(Rita Bischof)1

1. Zur Deutungsmacht der Leitmedien

Angesichts der Kriegshandlungen in der Ukraine, der zunehmenden geopolitischen und geoökonomischen Spannungen zwischen Russland und dem Westen und den von ihnen ausgehenden Verwerfungen des Weltordnungssystems hat man die größte Mühe die Gegenwart zu deuten, die sich stets im Fluss befindet und darum kaum deutbar und greifbar ist. Wie auch immer diese Gegenwart auf uns wirkt, sie wirkt beängstigend, beunruhigend, verunsichernd und keine(r) weiß, was kommt. Oder wissen vielleicht manche mehr als die anderen, indem sie sich die widerspruchsvolle Gegenwart widerspruchslos zu deuten einbilden und die Komplexität der auf uns wirkenden Ereignisse simplifizierend und verzehrend zu ergründen glauben?

Unsereiner ist immer dazu geneigt, die komplexen Sachverhalte zu vereinfachen und die seit langem angestauten, aber liegen gebliebenen Probleme auf scheinbar einfache Weise zu lösen, wodurch die komplexe Wirklichkeit auf einmal unkompliziert erscheint und konflikthafte Realität „urplötzlich“ konfliktfrei gedeutet wird. Dabei geht es meistens nicht so sehr um die Realität selbst als vielmehr um deren Deutungshoheit und Deutungsmacht, mit deren Hilfe man stets versucht, die so gedeutete „Realität“ uns als realitas zu präsentieren, deren Hintergründe aber zu verschleiern, um uns als die einzig „wahre“ Deutung der Ereignisse „glaubhaft“ zu verkaufen.

Wir sollten ja daran glauben, was nur glaubhaft zu sein scheint und jedem von den Leitmedien präsentierten „Experten“ vertrauen, der uns als vertrauenswürdig und kompetent vorgestellt wird. So sind wir nun mal erzogen und dazu dressiert worden, autoritätshörig fremdbestimmt zu sein und ein systemkonformes Denken als ein eigenes zu verinnerlichen. Auctoritas non veritas facit legem!

„Im Gewaltgeschehen der Gegenwart“ (Lothar Brock) und im Zeitalter der medialen Vormachtstellung der Mainstream-Medien ist es immer schwieriger geworden auszumachen, wo Wahrheit und Dichtung ist, um realitätsadäquate, glaubhafte Informationen und Berichte zu verifizieren. Denn was wahr oder falsch ist, entscheidet im um uns herumtobenden Informationskrieg nicht, wie die Leitmedien uns suggerieren, „Fakten“ und nur „Fakten“, die in den uns übermittelten Fernsehbildern vermeintlich die realitas abbilden, sondern allein deren Deutung durch die alles überstrahlenden und dominierenden Mainstream-Medien, die alles als bloße Propaganda denunzieren, die mit ihrer eigenen Propaganda nicht übereinstimmt.

In Anbetracht des Krieges in der Ukraine und der daraus resultierenden, gefährlich zugespitzten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen stellt sich vor allem die Frage: Wie soll es weiter gehen? Dürfen wir uns allein damit begnügen, die Deutungshoheit über das Kriegsgeschehen in diesem erbarmungslos geführten Informationskrieg hinzunehmen und einfach den Deutungsmachern überlassen, statt ein eigenes Urteil über die Ursachen und Hintergründe der stattfindenden Ereignisse frei von fremdbestimmten Deutungen emotionslos zu bilden? Und müssen wir uns nicht über die eigene Zukunft und die der real existierenden Weltordnung, die immer öfter durch Gewalt, Krieg und Machtwillkür gefährdet wird, Gedanken machen? Sind unser Frieden, Freiheit und Wohlstand nicht schon längst bedroht und unser Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden in Frage gestellt, ohne dass wir die seit gut zwanzig Jahren ununterbrochen bestehen Spannungen, Friktionen und Konflikte zwischen Russland und den USA, Russland und der NATO abzubauen gewillt sind?

Statt die um sich herumgreifende und von den Leitmedien geschürte Hass- und Verdammungsrhetorik weiterhin kritiklos zu konsumieren, sollte unsereiner lieber diese mediale Volksverdummung kritisch hinterfragen und sich mehr Mühe geben, den gegenwärtigen Zustand der Weltordnung zu analysieren, der sich bereits seit Anfang des 21. Jahrhunderts – glaubt man dem 2007 verstorbenen Soziologen Karl Otto Hondrich – „auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“ befand und heute schon längst eine solche geworden ist.

Die grundlegende Frage, die sich hier und heute immer wieder stellt, lautet: Welche langfristigen Folgen hat für uns eine solche „Weltgewaltordnung“ und dürfen wir uns damit abfinden? Oder können wir immer noch auf eine Weltfriedensordnung hoffen, bevor diese Weltgewaltunordnung in einen globalen Krieg ausartet? Es geht letztendlich um unser eigenes Überleben und die Ergründung eines Modus Vivendi, wodurch eine weitere gefährliche Eskalationsstufe vermieden und geopolitische wie geoökonomische Spannungen zwischen Russland und dem Westen abgebaut werden sollten, die außer noch mehr Elend, Leid und Gewalt nichts Gutes versprechen.

2. Zur moralischen Rechtfertigung einer „ordnenden Gewalt“

Mit seinen zwei Artikeln „Auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“ (NZZ 22.03.2003, S. 50) und „Die ordnende Gewalt“ (Der Spiegel 25/2003) löste der Soziologe Karl Otto Hondrich (1937-2007) vor knapp zwanzig Jahren eine heftige Debatte aus, die heute angesichts des Krieges in der Ukraine aktueller denn je ist. Vor dem Hintergrund des am 20. März 2003 begonnenen Irakkrieges formulierte er – wie er es nannte – fünf „Gesetze“ zur Rechtfertigung des Krieges und der von der US-hegemonialen Ordnungsmacht angeführten „Weltgewaltordnung“. Diese sog. „Gesetze“, die Krieg und Gewalt erklären bzw. rechtfertigen sollten und angeblich „nicht von Menschen gemacht sind“ (von wem dann?), führte er auf fünf Schlagwörter zurück: Reziprozität, Moralität, Identität, Fatalität und Tabu. Nun ist es nicht unsere Aufgabe eine eingehende Exegese der beiden Texte zu betreiben, sodass wir uns allein auf Hondrichs moralisch begründete Apologie von Krieg und Gewalt beschränken.

Indem er den Krieg als die „Hoch-Zeit der Moral“ charakterisierte und damit Moral als eine modale Form der Gewalt – sozusagen als Gewaltmoral – apostrophierte, lehnte er gleichzeitig eine andere, „gesteigerte Moral“ als Ausfluss des „Gebots der Gewaltlosigkeit“ ab, weil diese nur im Zustand einer der „höheren Kultur“ zugeordneten „gewaltfreien Gesellschaft“ existieren kann.

Damit unterscheidet Hondrich zwei völlig unterschiedliche Arten von Moral: Die eine beruht auf einem illusionären, weil weltfremden „Gebot der Gewaltlosigkeit“ und die andere, realitätsnahe und unbedingt zu bejahende Moral ist ein untrennbarer Bestandteil unserer „Gewaltordnung“. Denn „je höher und schneller sich Gesellschaft entwickelt und je weiter sie sich als Weltgesellschaft dehnt, desto verletzlicher werden die Menschen und ihre Kulturen, desto durchsetzungseifriger, desto konfliktreicher, kurz: desto gewaltträchtiger.“

Nur die USA können als die hegemoniale „Ordnungsmacht“ – schlussfolgert Hondrich – mittels der sich selbstlegitimierenden Moral die immer größer werdende „Weltgesellschaft“ befrieden und sie von Gewalt freihalten. Zwar haben die USA kein „Weltgewaltmonopol“, „wohl aber führen sie, in Gestalt der NATO, ein Weltgewaltkartell an.“ Damit erweist sich Hondrich mit seiner auf Gewaltmoral gegründeten und zu bejahenden „Weltgewaltordnung“ als ein eifriger Apologet der nach dem Zusammenbruch des Sowjetreiches entstandenen US-Hegemonialordnung.

Darum bekennt er sich auch offen zu der US-Hegemonialordnung, die sich nunmehr seiner Prognose zufolge „auf dem Weg zu einer Weltgewaltordnung“ befindet, indem er am Ende seines Artikels in der NZZ resümiert: „Die Welt ist US-hegemonial verfasst, weil es eine Ordnung ohne Gewalt nicht gibt; weil es eine Gewaltordnung ohne Hegemonie nicht gibt, und weil es keinen anderen Hegemonen gibt, der die Vielfalt, die Widersprüche und die Träume der Welt so sehr in sich vereint wie die Vereinigten Staaten. Wer von ihrer Hegemonie nichts wissen will, der kann die Hoffnung auf Weltfrieden begraben.“

Wer sagte denn aber, dass der US-Hegemon auf Dauer einen Weltfrieden statt Weltunfrieden gewährleisten bzw. eine Weltordnung statt Weltunordnung garantieren könnte und die sich immer weiter dehnende auf US-Gnaden gegründete „Weltgesellschaft“ – in eine „Weltgewaltordnung“ transformierend – nicht weniger, sondern mehr Gewalt, Krieg, Zerstörung und Elend verursachen würde? Die Erfahrungen der vergangenen zwanzig Jahre mit der US-Hegemonie sprechen ja für sich.

Zwar hatte Hondrich diese Erfahrung nicht mehr machen können. Hätte er die rechts- und verfassungstheoretischen Schriften von Ingeborg Maus gekannt, wäre er womöglich in seinen Urteilen über die friedensstiftende Funktion der US-hegemonialen „Weltgewaltordnung“ nicht so selbstsicher gewesen.

Bereits 1999/2000 wies Maus im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg warnend darauf hin, dass „wer den Weltstaat etablieren will, den Weltkrieg (riskiert)“ und dass es „unvertretbar“ sei, „die geltende internationale Rechtsordnung mit Hilfe moralischer Argumente, die grundsätzlich unbestimmter sind als Rechtsnormen … außer Kraft zu setzen.“2

Zudem vermengt Hondrich in unzulässiger Weise die Begriffe Krieg und Gewalt miteinander, wodurch er seine moralisch geleitete Apologie der US-hegemonialen „Weltgewaltordnung“ noch fragwürdiger macht. Ist Gewalt eine auf Zwang und Nötigung zurückgehende Verhaltensweise des Menschen, so ist Krieg der extremste Ausdruck eines sich selbst moralisch legitimierenden und keine diplomatische Lösung mehr akzeptierenden staatlichen Machtwillens. Vermengt man die beiden Begriffe miteinander, so kommt man mit Hondrich in der Tat zum Verständnis vom Krieg als der „Hoch-Zeit der (Gewalt)Moral“, womit dann auch die hegemoniale „Weltgewaltordnung“ moralisch sich selbst legitimieren kann bzw. sich legitimieren lässt.

Diese von Hondrich begrüßte US-Hegemonialordnung versuchte die Weltunordnung unter Einsatz militärischer Gewalt zu beseitigen. „Gelingen kann dies freilich nicht“ – stellte Birgit Mahnkopf bereits 2004 zutreffend fest -, „weil die Ordnung, die auf diese Weise erzeugt wird, eine ausschließende Ordnung ist. Das verdeutlichen in aller Schärfe die Angriffskriege der USA und ihrer Verbündeten auf Afghanistan und den Irak. Die Intervention mag gelingen, doch folgt auf den Krieg kein Frieden und daher keine Ordnung – sondern Unsicherheit, Korruption und Schattenwirtschaft.“3

Mit dem Krieg in der Ukraine ernten wir heute nunmehr das, was wir mit der vor gut zwanzig Jahren entstandenen US-hegemonialen Weltgewaltunordnung gesät haben. Offenbar gilt die altrömische Sentenz: „Quod licet Iovi non licet bovi“ in Zeiten der etablierten neuen „Weltgewaltordnung“ nicht mehr. Offenbar darf auch der „Ochse“ (bovi) längst, was der „Jupiter“ (Iovi) darf und wir leben längst nicht mehr in der US-hegemonialen, sondern in einer multipolaren „Weltgewaltordnung“.

3. Gewaltordnung versus Rechtsordnung

In seinem zweiten Aufsatz „Die ordnende Gewalt“ stellte Hondrich zwei Grundthesen auf: (1) „Nicht Rechts-, sondern Gewaltordnung ist die Grundlage von Gesellschaft.“ (2) „Die gewaltige Macht Amerikas ist nicht das Problem. Sie ist die Lösung“. Das Problem sei allein „die Vielfalt und Streuung der Gewalt, weltweit“ und es sei „nur glücklichen Umständen“ zu verdanken, dass das „Gleichgewicht des Schreckens“ des „Kalten Krieges“ „nicht in einem Inferno mündete.“ Jetzt sei aber alles wunderbar. Denn dieses „Gleichgewicht des Schreckens“ verwandelte sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion „in die Vormacht der USA.“ Es wäre wohl „das törichteste und gefährlichste“, diese US-Hegemonie aufzuheben, sonst würde es „in neue Dimension von alten Gewaltkonkurrenzkämpfen (zurückführen)“, zumal sich das Völkerrecht als kraft- und hilflos erweise. Die UNO könne es nicht richten. „Sie hat keine Gewalt. Wo Recht nicht durchgesetzt werden kann, gibt es kein Recht … Was der UNO fehlt, haben die USA: wenn auch kein Weltgewaltmonopol, so doch die Führerschaft in einem Kartell der Waffenmächtigen“, sodass an Stelle vom Recht Gewalt und an Stelle vom UN-Recht das von den USA angeführte „Gewaltkartell“ treten solle. Denn „je umfassender das Gewaltkartell, desto brisanter seine innere Einheit und desto größer die Zugeständnisse, die die Führungsmacht machen muss, um Einheit und Staffelung der Mach zu erhalten.“ So weit, so gut!

Diese von Hondrich zutreffend erkannte US-hegemoniale „Weltgewaltordnung,“ die das Recht durch Gewalt substituierte, erweist sich zwanzig Jahre danach als gescheitert. Wie konnte es überhaupt zu einem solchen „Gewaltkartell“ kommen, in welchem an Stelle der Weltfriedensordnung eine Weltgewaltordnung treten konnte und Frieden durch Gewalt statt durch Recht gesichert werden sollte?

Diese Entwicklung setzte schon im April 1999 ein, als die NATO-Staaten ein „Neues Strategisches Konzept“ verkündeten, in dessen Zentrum eine frühzeitige präventive Krisenbewältigung stand. War der NATO-Vertrag vom 4. April 1949, also zurzeit des Ost-West-Konflikts, als Verteidigungsbündnis konzipiert und in den Rahmen des von der UN-Charta (Art. 51) garantierten „Rechts zur individuellen

oder kollektiven Selbstverteidigung“ gestellt, so änderte sich alles schlagartig mit der Washingtoner Erklärung von 1999.

„Jetzt sollte nicht ein >bewaffneter Angriff< abgewartet, sondern eine möglichst frühzeitige >Krisenbewältigung< erreicht werden … Die Sicherheitsinteressen der NATO werden nicht mehr nur durch militärische, bewaffnete Konflikte berührt, vielmehr auch von >anderen Risiken umfassender Natur< einschließlich Terrorakten, Sabotagehandlungen, organisiertem Verbrechen oder der Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen.“4

Beruht die UN-Charta auf den Grundsätzen der souveränen Gleichheit, des Gewaltverbots (mit Ausnahme eben des Rechts zur Selbstverteidigung) und des Interventionsverbots (Gebot der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten), so erfahren diese Grundsätze des UN-Völkerrechts seit dem Kosovo-Krieg eine folgenschwere Relativierung: Weichte das Interventionsverbot auf einmal „einer Rechtfertigung aus Gründen >humanitärer Intervention<“ bzw. „einer menschenrechtlich begründeten >Nothilfeaktion<“, so wurde das Gewaltverbot „gegenüber der Bekämpfung eines drohenden und schon in Ausführung begriffenen Verbrechens des Völkermords zurückgesetzt.“5

Mit dem „Neuen Strategischen Konzept“ der NATO fand bereits eine dem UN-Recht zuwiderlaufende „Entterritorialisierung“ und „Entgrenzung“ der Gewalt statt, die nach den Terrorakten vom 11. September 2001 in Afghanistan und Irak voll zur Entfaltung kamen. Hondrichs „Weltgewaltordnung“ war letztlich eine nachträgliche Reflexion und Apologie der bereits existierenden geopolitischen Realität, die er ausdrücklich bejahte und moralisch legitimierte. Die moralische Selbstgewissheit, mit der Hondrich die neue US-hegemoniale „Weltgewaltordnung“ zu legitimieren suchte, war umso fragwürdiger, je mehr er eine völkerrechtliche Legitimation der Gewaltanwendung delegitimierte, weil – so seine steile These – „nicht Recht-, sondern Gewaltordnung die Grundlage von Gesellschaft“ sei.

Dem ist mit Erhard Denninger zu entgegnen: „Je stärker die eigene moralische Überlegenheit über den Gegner … wird, desto geringere Anforderungen werden an die Rechtsgründe für die Befreiung vom allgemeinen Gewaltverbot gestellt … Ein entsprechend weit gefasstes Verständnis von >Prävention<, verbunden mit der militärischen Überlegenheit zu ihrer Durchsetzung und verknüpft mit der moralischen Gewissheit, dass die eigene Sache die Sache des Guten ist, lässt das rechtliche Gewaltverbot, lässt überhaupt alle rechtlichen Regeln zur Eindämmung internationaler Gewaltanwendung leer laufen.“6

Eine solche moralische Selbstlegitimation der Gewalt führt aber gleichzeitig zur Selbstermächtigung der sich von jeder rechtlichen Bindung befreienden Gewaltanwendung. Hondrichs Apologie der US-hegemonialen „Weltgewaltordnung,“ in welcher die Konzentration und Monopolisierung aller Macht bei einem weltbeherrschenden Hegemonen verbleibt, erweist sich letztlich als „Scheinlösung“. Denn auch „die militärisch stärkste Macht der Welt kann diese ihre Position nicht weltweit überall und vor allen Dingen nicht dauerhaft aufrechterhalten. Dies ist … auch die logische Konsequenz des Hondrichschen Ansatzes selbst, der sich damit selbst aufhebt. Denn wenn es zutrifft, dass in den elementaren sozialen Prozessen Gewalt fortwährend neu erzeugt und gelebt wird, dann kann ein Welt-Gewaltmonopol nur durch ebenso permanente Unterdrückung jeder schwächeren Gewaltregung aufrechterhalten werden. Damit wäre jedoch genau jener Zustand erreicht, den schon Kant (1795) als negativen Gegenentwurf zu seiner Idee des >Ewigen Friedens< verworfen hat, nämlich den >Frieden< >auf dem Kirchhofe der Freiheit<.“7

Die Selbstermächtigung legitimiert sich letztlich durch sich selbst, nicht durch das Recht. Diese Selbstlegitimation führt wiederum dazu, dass die von den USA vorangetriebene Entwicklung neuer Verhaltensnormen und Spielregeln in den internationalen Beziehungen eine universale Geltung beanspruchen sollte, „ohne sich jedoch in gleicher Weise auf die Schaffung von Verfahrensregeln für die Umsetzung dieser Normen im Rahmen des UN-Systems einzulassen“8, was nichts anderes als die typische Vorgehensweise einer Hegemonialmacht ist, welche die anderen Staaten und Nationen dazu verpflichtet, sich an Verträge und Vereinbarungen genauso wie an Verhaltensnormen und Spielregeln zu halten, ohne sich selbst daran binden zu lassen. Nach innen liberal, nach außen hegemonial: Das ist wohl der Motor der neuen vom US-Hegemon dominierten „Weltgewaltordnung“, der sich die geopolitischen Rivalen Russland und China entgegenstellten und darum den ganzen Zorn des amtierenden Hegemonen auf sich zogen.

Damit bewahrheitet sich aber lediglich eine von Carl Schmitt längst gewonnene Erkenntnis, dass es nämlich „nicht denkbar (ist), dass eine Großmacht, und noch weniger, dass eine imperialistische Weltmacht sich juristisch auf einen Codex von festen Normen und Begriffen festlegt, die ein außenstehender Fremder gegen sie selber handhaben dürfte.“9

Nun versucht Russland mit seinem Krieg in der Ukraine genau das zu tun, was der US-Hegemon gemeinsam mit seinem „Gewaltkartell“ seit gut zwanzig Jahren praktiziert. Erleben wir heute womöglich ein neues im Entstehen begriffenes Gewaltkartell, das neben Russland weitere Groß- und Kleinmächte hinzugezählt werden könnten? Gewaltkartell gegen Gewaltkartell?

Offenbar kann man doch nicht ohne Weiteres den bellizistischen Geist der vom US-Hegemon geschaffenen „Weltgewaltordnung“ zurück in die „Büchse der Pandora“ zwingen. Aus diesem bellizistischen Teufelskreis kommt die heute real existierende Weltgewaltordnung, in der Gewaltkartelle auf Vormarsch sind, nicht mehr raus! Sie bleibt der Gefangene der Spielregeln ihrer eigenen Gewaltmoral, deren Überwindung ein ganz anderes Verständnis von Recht, Moral und Gerechtigkeit voraussetzt.

Ob aus der hier und heute bestehenden „Weltgewaltordnung“ in naher Zukunft urplötzlich eine Weltfriedensordnung hervorgehen kann, ohne dass es zuvor zu einem globalen Krieg kommt, bleibt abzuwarten. Zweifel sind jedoch angebracht!

Anmerkungen

1. Bischof, R., Entzauberte Geschichte (Nachwort), in: Lessing, Th., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1983, 265-291 (265).
2. Maus, I., Wer den Weltstaat etablieren will, riskiert den Weltkrieg (1.1.2000), in: ders., Menschenrechte, Demokratie und Frieden. Perspektiven globaler Organisation. Berlin 2015, 195-209 (198 f.).
3. Mahnkopf, B., Neoliberale Globalisierung und globaler Krieg, in: Blätter f. deutsche u. internationale Politik 49 (2004), 47-57 (52).
4. Denninger, E., Recht, Gewalt und Moral – ihr Verhältnis in nachwestfälischer Zeit. Ein Bericht, in: Kritische Justiz 38 (2005), 359-369 (360).
5. Denninger (wie Anm. 3), 361.
6. Denninger (wie Anm. 3), 362.
7. Denninger (wie Anm. 3), 364.
8. Brock, L., Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: Internationale Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Geis u. a. (Hrsg.), Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (66).
9. Schmitt, C., USA und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus, in: Königsberger Auslandsstudien 8 (1933), 127; zitiert nach Nico Krisch, Amerikanische Hegemonie und liberale Revolution im Völkerrecht, in: Der Staat 43 (2004), 267-297 (267).

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