Verlag OntoPrax Berlin

Ist „das Zeitalter des humanitären Interventionismus“ zu Ende?

Stellungnahme zu Jürgen Trittins These

Übersicht

  1. Der Kosovo-Krieg als die Geburtsstunde der „humanitären Intervention“
  2. Von „militantem Humanismus“ und dessen Folgen

Anmerkungen

1. Der Kosovo-Krieg als die Geburtsstunde der „humanitären Intervention“

In seinem Artikel „Ein Jahr Erfolg, 19 Jahre Scheitern“ (Handelsblatt vom 9.09.21, Nr. 174, S. 48) stellte Jürgen Trittin die kühne These auf, dass „das Zeitalter des humanitären Interventionismus“ zu Ende sei. „Ein Jahr Erfolg und 19 Jahre Scheitern der NATO in Afghanistan haben“ laut Trittins Diagnose „die geostrategischen Gewichte zugunsten Chinas verschoben.“ Abgesehen davon, dass sich „die geostrategischen Gewichte“ schon längst „zugunsten Chinas“ verschoben haben und dass dasAfghanistan-Desaster nur noch eine weitere „Etappe im Abstieg des Westens“1 sei, stellt sich in der Tat die Frage, ob die Ära der sog. „humanitären Intervention“ mit Afghanistan endet.

Trittin führt die Entstehung und den Ursprung der Doktrin von der „humanitären Intervention“ auf die 1990er-Jahre zurück. Nebulös spricht er davon, dass „die Ära des humanitären Interventionismus“ „auf dem Balkan in den 90er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts (begann)“, verschweigt aber gleichzeitig den eigentlichen Grund für diesen „militanten Humanismus“ (Noam Chomsky)2. Mit keinem Wort erwähnt Trittin in seinem ganzen Artikel den Kosovo-Krieg. Und das aus gutem Grund! Die Doktrin von der „humanitären Intervention“ entstand zu jener Zeit, als Trittin im Kabinett Schröder/Fischer einen Ministerposten bekleidete und an der Entscheidung der Bundesregierung für den Einsatz der Bundeswehr im Kosovo-Krieg unmittelbar beteiligt war. Er trägt eine direkte Verantwortung zwar nicht für die Formulierung der Doktrin selbst, wohl aber für deren völkerrechtswidrige Umsetzung in der politischen Praxis.

Die „Enttabuisierung des Militärischen“ (Lothar Brock)3 ist seitdem zum „guten Ton“ der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik geworden. „Der Eifer, den die rot-grüne Regierungsspitze, der Kanzler und sein Vizekanzler, bei jedem Anlass zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr an den Tag legen“ – notierte die FAZ am 31. Dezember 2001, S. 1 -, hat seinen Ursprung eben in diesem Kosovo-Krieg.

Trittin rechtfertigt seine Zustimmung und die der Grünen für den Kosovo-Krieg mit drei Argumenten:

  1. Man kann „angesichts schwerster Menschenrechtsverletzungen auch durch Nichthandeln schuldig werden“.
  2. Nach „Nie wieder Krieg“ wurde der Kosovo-Krieg „wieder zur Ultima Ratio, um Völkermord zu verhindern“. Warum nicht gleich mit Joschka Fischer: „Nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen. Deswegen bin ich in die Grüne Partei gegangen“? (Auszug aus der Joschka Fischer-Rede auf dem Parteitag am 13.05.1999).
  3. Der Kosovo-Krieg war zur Durchsetzung des „internationalen Rechts“ bzw. „der Herrschaft des Rechts“ erforderlich und sogar – wenn man Bundeskanzler Schröder und Vizekanzler Fischer Glauben schenkt – „alternativlos“. Bereits kurz nach dem Beginn des Kosovo-Krieges behauptete Schröder: „Wir haben eine Entscheidung getroffen, die nach unserer Auffassung ohne Alternative war“ (Der Spiegel 15 (1999), S. 32). Und Fischer pflichtete dem Kanzler nach dem Kriegsende bei: „Es gab nie wirklich eine Alternative, selbst für die nicht, die diesen Krieg

heftig kritisiert haben“ (Der Spiegel 25 (1999), S. 34). Wirklich nicht? Die historischen Forschungsergebnisse malen uns ein ganz anderes Bild. Man fragt sich zudem irritiert: Wie kann man das „internationale Recht“ bzw. die „Herrschaft des Rechts“ durchsetzen, indem man es gleichzeitig bricht? Der Einsatz der militärischen Gewalt erfolgte ohne die Zustimmung des Weltsicherheitsrates.

Mit dem Kosovo-Krieg demonstrierte die NATO „eindrucksvoll“ ihr neues geopolitisches Machtinstrument der sog. „humanitären Intervention“, das sich allerdings als ziemlich diffizil erwies. Es lieferte eine Legitimationsgrundlage für den eigenmächtigen, vom Weltsicherheitsrat nicht sanktionierten völkerrechtswidrigen Angriffskrieg, legte aber gleichzeitig ein Fundament für einen Erosionsprozess der gerade im Entstehen begriffenen hegemonialen Weltordnung unter Führung der USA.

Dass der Kosovo-Krieg zur Bekämpfung „schwerster Menschenrechtsverletzungen“ oder gar zur Vermeidung des „Völkermords“ diente, widerspricht, wie gesagt, den umfangreichen Forschungsegebnissen4. Mehr noch: Statt Sicherheit und Wohlstand erzeugte der Kosovo-Krieg Tod und Vernichtung, Verelendung der Bevölkerung und Zerstörung der elementaren Lebensgrundlagen des Landes und fußte darüber hinaus auf falschen, zum Teil verfälschten Behauptungen: „Wie sichnachträglich herausstellte, wichen die kosovo-albanischen wie auch offizielle westliche Darstellungen der Situation im Kosovo zu diesem Zeitpunkt von der Realität erheblich ab. Die Zahl der vor der NATO- Intervention von den Serben getöteten Kosovo-Albaner wurde aufgrund von Untersuchungsergebnissen des Kriegstribunals in Den Haag massiv nach unten korrigiert (vgl. ICTY 2000). Nach der Intervention erhärteten sich die Beweise dafür, dass Informationen, die die NATO- Intervention begründen oder rechtfertigen sollten, übertrieben, teilweise verfälscht worden waren“5.

Was war nun das Ergebnis dieses „Military Humanism“? Nach den ersten NATO-Angriffen schoss „die Zahl der Flüchtlinge explosionsartig in die Höhe“. Der UNHCR unterstrich diesen Sachverhalt: „“Da die Luftangriffe mit der offiziell bekundeten Absicht erfolgten, die laufende und mögliche weitere Ermordung und Vertreibung von Kosovo-Albanern zu verhindern, sprach man von einem `humanitären Krieg` der NATO. Dieser Euphemismus konnte jedoch nicht verschleiern, dass die Luftangriffe zumindest kurzfristig eine noch größere humanitäre Katastrophe auslösten“6.

„Die NATO-Luftangriffe führten zu einer Gewalteskalation am Boden . . . Alle Gebiete im Kosovo waren von Massenvertreibungen, Hinrichtungen und Zerstörung betroffen, solche mit Verbindungen zu UCK jedoch am härtesten. . . . Tausende Menschen wurden ermordet. Die Zahlen sind höchst umstritten, aber schätzungsweise wurden 10.000 bis 12.000 Kosovo-Albaner sowie 3.000 bis 5.000 Serben – sowohl Angehörige der Militärs als auch Zivilisten – getötet, in erster Linie aufgrund der Zusammenstöße zwischen der UCK milizartig organisierten albanischen Kräften einerseits und dem jugoslawischen Militär, der serbischen Polizei und Paramilitärs andererseits, etwa 500 durch NATO- Luftangriffe. Zum Vergleich: Seit dem Ausbruch bewaffneter Kämpfe im Jahr 1998 bis zum Beginn der NATO-Offensive im März 1999 waren knapp 1.500 Tote unter den Kosovo-Albanern sowie 140 Tote unter den Angehörigen der serbischen Polizei und Armee zu beklagen gewesen“7.

Die NATO müsste eingestehen, dass die Zielsetzung der Intervention, „weitere schwere und systematische Verletzungen der Menschenrechte zu unterbinden und eine humanitäre Katastrophe zu verhindern“ (Gerhard Schröder, Erklärung zur Lage im Kosovo, Bonn 24.03.1999), nicht eingelöst werden konnte und dass die „humanitäre Intervention“ „inhumanere Auswirkungen zeitigte als die Belgrader Politik in der gesamten Zeit der (aus Sicht der Kosovo-Albaner) kommunistisch-serbischen Herrschaft über Kosovo“8.

Mit der sog. „humanitären Intervention“ etablierte die NATO unter der Führung des US-Hegemons eine sich selbstermächtigende, hegemoniale Interventionspraxis unter Umgehung des UN-Rechts und machte die vom Völkerrecht geächteten Angriffskriege wieder salonfähig. Was nun aber die Salon- Menschenrechtler mit den Grünen an der Spitze betrifft, so kümmern sie sich weniger um konkrete menschliche Schicksale als vielmehr um abstrakte, blutleere „Ideale“ zwecks Befriedigung ihres pseudomoralischen Gewissens9.

2. Von „militantem Humanismus“ und dessen Folgen

„Aus Sicht einer Mehrheit der Völker“ ist laut Trittins zutreffender Feststellung „die humanitäre Intervention schon länger als Narrativ für schnöde Interessenpolitik der USA und Europas desavouiert. . . . Afghanistan offenbart nun das endgültige Scheitern dieses Konzepts“. Zu spät, viel zu spät kommt der Außenpolitiker Trittin zu dieser trivialen Erkenntnis. Der nie enden wollende „humanitäre“ Bellizismus im Namen von Demokratie und Menschenrechten dauert ja bereits mehr als 20 Jahre. Erst jetzt kommt Trittin zu der Erkenntnis, dass Militär „nicht für Werte, sondern für Interessen eingesetzt (wird). Die strategische Entscheidung der USA gegen nie endende Kriege fordert von Europa, sich jenseits der Werterhetorik verstärkt um seine eigene Sicherheit zu kümmern.“

Der Kosovo-Krieg hat die bellizistische „Büchse der Pandora“ geöffnet. Nachdem der Geist des „militanten Humanismus“ aus dieser „Büchse“ entwichen war, war es praktisch nicht mehr möglich, den bellizistischen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen. Die Folgen waren und sind desaströs. Die axiologische Selbstverblendung und Selbstbeweihräucherung des Westens haben Millionen Menschenleben gekostet. Nach Angaben von Costs of War Project, das seit 2010 vom Watson Institute for International and Public Affairs an der Brown University (Providence, US-Bundesstaat Rhode Island) betrieben wird, sind „in den Kriegen in Afghanistan und Pakistan, im Irak und in Syrien, im Jemen und an einigen kleineren Schauplätzen des `Anti-Terror-Kriegs“ . . . mindestens 897.000 bis 929.000 Menschen unmittelbar bei Kampfhandlungen zu Tode gekommen. Dabei handelt es sich nur um Todesopfer, die durch zwei unabhängige Quellen sicher nachgewiesen sind, davon rund 364.000 bis 387.000 Zivilisten . . . Die Gesamtzahl der direkten und indirekten Kriegstoten wird allein für den Irak in den Jahren von 2003 bis 2013 auf bis zu einer Million geschätzt. Laut dem Costs of War Project ist davon auszugehen, dass die Gesamtzahl der Kriegstoten in sämtlichen betroffenen Ländern bei einem Mehrfachen der unmittelbaren Todesopfer der Kämpfe liegt“10.

Nach dem Ende des Kosovo-Krieges frohlockte der US-Präsident Clinton: „Ich kann dem amerikanischen Volk mitteilen, dass wir einen Sieg für eine sicherere Welt, für unsere demokratischen Werte und für ein stärkeres Amerika errungen haben“11.

Zum 20. Jahrestag von 9/11 müssen wir leider feststellen: Die Welt sei weder sicherer und demokratischer noch sei Amerika stärker geworden. Bedeutet diese geopolitische Momentaufnahme, dass der „militante Humanismus“ ausgedient hat? Trittins Antwort lautet: Jein! „Denn das Ende des humanitären Interventionismus bedeutet nicht das Ende möglicher Auslandseinsätze . . . Dieses Mal gibt es eigentlich nur noch die Option, Allianzen eher um gemeinsame Interessen als um Werte aufzubauen“. Soll das etwa heißen, dass an die Stelle des „militanten Humanismus“ ein militanter Utilitarismus treten soll? Intervention im wohlverstandenen Eigeninteresse? Offenbar kann man doch nicht ohne Weiteres den bellizistischen Geist zurück in die „Büchse der Pandora“ zwingen.

Aus diesem bellizistischen Teufelskreis kommt der Westen nicht mehr raus! Er bleibt der Gefangene seiner „heilen Welt“ von Demokratie und Menschenrechten. Die „Enttabuisierung des Militärischen“ wird deswegen unvermindert fortbestehen. Der liberale Friede in der innerwestlichen Welt wird weiterhin (da gibt`s kein Vertun) mit Chaos, Verwüstung, Verelendung und Zerstörung der außerwestlichen Welt erkauft. Die geschundene Außenwelt wird freilich die westliche Welt nicht in Ruhe lassen und wie ein Bumerang rachedurstig immer wieder und immer öfter mit Attentaten, Terror und Zerstörung in den Westen zurückkommen, um dessen „heile Welt“ auch leidend sehen zu können. Je elender das Innenleben der Außenwelt wird, umso strahlender erscheint der westliche Stern am geopolitischen Himmel, umso höher ist die Anziehungskraft des Westens, umso mehr strömen alle Geschundenen dieser Erde in das „gelobte Land“, um von den „westlichen Werten“ nicht nur zu hören,sondern diese auch hautnah miterleben zu dürfen, und umso „prominenter“ wird weiterhin die Rolle des Westens „im Gewaltgeschehen der Gegenwart“12 sein.

Anmerkungen

  1. „Eine Etappe im Abstieg des Westens“. taz-Interview mit Guido Steinberg am 31.08.21.
  2. Noam Chomsky, The New Military Humanism. Lessons from Kosovo. London 1999.
  3. Lothar Brock, Universalismus, politische Heterogenität und ungleiche Entwicklung: International Kontexte der Gewaltanwendung von Demokratien gegenüber Nichtdemokratien, in: Schattenseiten des Demokratischen Friedens. Frankfurt/New York 2007, 45-68 (46); siehe auch Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 79 ff.
  4. Statt vieler Hofbauer, H. (Hg.), Balkankrieg. Wien 1999; Loquai, H., Der Kosovo-Konflikt – Wege in einen vermeidbaren Krieg. Die Zeit von Ende November 1997 bis März 1999. Baden-Baden 2000; des., Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt. Baden-Baden 2003; Lutz, D.S. (Hrsg.), Der Krieg im Kosovo und das Versagen der Politik. Beiträge aus dem IFSH. Baden-Baden 2000; Merkel, R. (Hrsg.), Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt 2000; Elsässer, J./Markovits, A.S. (Hrsg.), Kriegsverbrechen. Die tödlichen Lügen der Bundesregierung und ihre Opfer im Kosovo-Krieg. Hamburg 2001; Nolte, G., Kosovo und Konstitutionalisierung: Zur humanitären Intervention der NATO-Staaten, in: Max- Planck-Institut f. ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 1999, 941-960; Tomuschat, Ch., Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, in: Die Friedens-Warte 74 (1999), 33-37; Pradetto, A., Integration, Regimewechsel, erzwungene Migration. Die Fälle Kosovo, Afghanistan und Irak. Frankfurt 2008.
  5. Pradetto (wie Anm. 4), 17 f.
  6. Ebd., 19.
  7. Ebd., 19 f.
  8. Ebd., 21.
  9. Näheres dazu Silnizki, Anti-Moderne (wie Anm. 3), 83 f.
  10. Zitiert nach „Bilanz des `Anti-Terror-Kriegs`“, german-foreign-policy, 10.09.2021.
  11. Zitiert nach Hannes Hofbauer, Neue Staaten, neue Kriege, in: des. (Hg.), Balkankrieg (wie Anm. 4), 47-196 (179).
  12. Brock (wie Anm. 3), 66.
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