Verlag OntoPrax Berlin

Neue Machtbalance

Stellungnahme zu einem Desiderat


Übersicht

  1. Allgemeine Würdigung des Werkes
  2. Kritik und Kommentar
    – Russland zwischen Gleichgewicht und Hegemonie
    – Russlands „imperiale Tradition“ und Pax Americana
    – Russische Zivilisation als Gegenentwurf zum westlichen Universalismus?
  3. Die Ära Gorbačev und El`cin
    – Gorbačevs gescheiterte Reformpolitik
    – Die 1990er-Jahre
  4. Gleichgewichtsidee oder geopolitische Romantik?

Anmerkungen

1. Allgemeine Würdigung des Werkes

Unter dem Titel Neue Machtbalance hat der Direktor des Carnegie Moscow Center, ein namhafter russischer außenpolitischer Experte Dmitrij Trenin ein neues, 472 Seiten umfassendes Buch veröffentlicht. Sein letztes Werk liegt bereits sechs Jahre zurück1. Der vollständige Buchtitel lautet: »Neue Machtbalance. Russland auf der Suche nach einem außenpolitischen Gleichgewicht«2.

Als ein dem Westen zugeneigter liberaler Geist präsentiert sich Dmitrij Trenin in seinem Werk auch als russischer Patriot, der Russland vor dem „Zusammenbruch der russischen Staatlichkeit“ (крах российской государственности, S. 382) bewahren will. Mit dem diskussionsanregenden, ideenreichen und lesefreundlichen Werk tritt er als Theoretiker der russischen Außenpolitik ebenso auf, wie als Mahner und Warner vor einer erbitterten, oft hasserfüllten Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, die zu einem globalen Krieg ausarten könnte.

Es ist ein aufschlussreiches Werk, zeigt es doch mit einer entwaffnenden, ja geradezu brutalen Offenheit die Komplexität, die Unwägbarkeiten und die Gefahren, vor denen die russische Außenpolitik steht, und macht zugleich das ganze Dilemma der russischen Geopolitik deutlich, das sich zwischen dem Denken in Begriffen des Gleichgewichts und der „imperialen Tradition“ (Reinhard Wittram3) entscheiden muss. Zwar lehnt Trenin die russische „imperiale Tradition“ kategorisch ab, die (in den Worten von Reinhard Wittram gefasst) „den verschiedenen Nötigungen der Stunde folgte, gesättigt mit Tradition und frei bis zur Willkür“4. Der Verfasser plädiert vielmehr für ein globales Gleichgewichtssystem, das weit über die europäische Gleichgewichtstradition des 18./19. Jahrhunderts hinausgehen sollte. Wie aber dieses Gleichgewicht in der geopolitischen Realität der Gegenwart zu verwirklichen ist, bleibt indes diskussionswürdig.

Bei seinem Werk ist Dmitrij Trenin ein großer Wurf gelungen. Die Studie bietet eine seltene Gelegenheit viele Facetten der russischen Außenpolitik kennenzulernen und einen tiefen Einblick in das Innenleben der außenpolitischen Eliten staatlicher wie privater Provenienz zu erhalten. Es wäre durchaus angebracht, die Studie zwecks einer adäquateren Bewertung der russischen Außenpolitik zu übersetzen, um unnötige Spannungen zwischen Russland und dem Westen vermeiden zu können. Für einen außenpolitisch interessierten Westeuropäer ist die Darstellung der spannungsgeladenen Beziehungen Russlands zum Westen genauso von Interesse, wie die Wahrnehmung des Westens seitens der russischen außenpolitischen Elite.

Russische Außenpolitik ist für Dmitrij Trenin immer auch Weltpolitik. Sie geht über den europäischen Horizont weit hinaus. Zu provinziell erscheint Russland heute Europa aus geopolitischer Sicht.
Russland, das sich über die gigantische eurasische Festlandmasse von Europa bis zum Fernen Osten, von der Arktis bis Mittel- und Ostasien erstreckt, hat einen ganz anderen geostrategischen Blick auf die Welt als Europa und ganz andere geopolitischen Interessen als die Europäische Union.

In drei Teile gegliedert, stellt das Werk die Entwicklung Russlands der vergangenen 35 Jahren (seit Gorbačevs Machtübernahme) dar, behandelt das gesamte Spektrum der russischen Weltpolitik und verortet Russland als eine europäische und globale Macht, die allein kraft seiner geographischen Stellung im eurasischen Raum geradezu gezwungen wird, eine weltpolitische Rolle zu spielen. Nach der kurzen Einleitung, in der lapidar festgestellt wird, „das sich gegenwärtige politische und ökonomische Modell der Russländischen Föderation erschöpft hat“ und man „axiologische Leere“ (ценностная пустота) empfindet (S. 8), geht der Verfasser zum ersten Teil des Werkes über, in dem er „Grundlagen der Außenpolitik“ erörtert, worunter er einen „allgemeinen Blick auf die internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert“, „Faktoren der russischen Außenpolitik“ und „Gleichgewichtsidee“ (идея равновесия) subsumiert. Unter der Überschrift „Erbe“ (наследие) setzt sich der Verfasser sodann im zweiten Teil seiner Studie mit „Gorbačevs Lehren“ und „den 1990er-Jahren der Präsidentschaft El`cins“ ebenso, wie mit der „Epoche Putins“ auseinander. Der dritte und bei weitem umfangreichste Teil (knapp 200 Seiten) ist der bedeutendste Abschnitt der Studie. Hier werden die „Konturen der Außenpolitik Russlands in den 2020er-Jahren“ umrissen und eingehend analysiert. Die Erörterung der Grundfragen der Weltpolitik der 2020er-Jahren nimmt dabei ebenso einen breiten Raum ein, wie die Analyse der außen-, geo- und sicherheitspolitischen Strategie Russlands vor dem Hintergrund zahlreicher Bedrohungen und Gefahren, vor denen es und seine Bündnispartner stehen. Tendenzen, Ziele und strategische Interessen der russischen Außenpolitik werden hier umfassend behandelt, indem das gesamte weltpolitische Spektrum der russischen Außenpolitik dargestellt wird, die sich von der Ukraine und Weißrussland über die Europäische Union und die USA, China, Mittel- und Ostasien bis hin zu Indien, Süd- und Nordkorea, Nahen und Fernen Osten sowie Afrika und Lateinamerika erstreckt. Kurzum: Der dritte und letzte Teil des Werkes erweist sich als eine Art „Reiseführer“ für die russische Außen- und Weltpolitik.

2. Kritik und Kommentar

Russland zwischen Gleichgewicht und Hegemonie

Zu Recht stellt Trenin bereits in der Einleitung seines Werkes fest, dass die gegenwärtige russische Wirtschaftsverfassung bereits in der Ära El`cin geformt wurde und dass Putins Außenpolitik trotz zahlreicher Metamorphosen ihren Ursprung in Gorbačevs Außenpolitik findet. Diese wirtschafts- und außenpolitischen Fundamente werden sich nach Trenins Überzeugung einer grundlegenden Transformation unterziehen müssen. Es werde nicht so bleiben, wie es sei (S. 8). Die Ursachen liegen hierfür zum einen im innenpolitischen Kampf der Machteliten und zum anderen in der wachsenden Konfrontation zwischen Russland und dem Westen. „Der Westen ist zu keinem Kompromiss, Russland ist zu keiner Kapitulation bereit“ (Запад не пойдет на компромисс, Россия – на капитуляцию, S.9), stellt Trenin prägnant fest.

Die Welt erlebe heute ein Vierteljahrhundert nach der Beendigung des Kalten Krieges, in dem die US- Hegemonie dominierte, einen dramatischen Transformationsprozess mit einer zunehmenden Machtrivalität der Groß- und Weltmächte (S. 11 f.). Vor diesem Hintergrund stellt Trenin die Grundthese seines Werkes auf: Eine erfolgversprechende russische Außenpolitik setze ein Gleichgewicht (равновесие) zwischen unterschiedlichen innen- und außenpolitischen Gegebenheiten voraus. Ein solches Gleichgewicht gebe es laut Trenin in der russischen Außenpolitik noch nicht, wobei der Verfasser hier die Begriffe „Balance“ (баланс) und „Gleichgewicht“ (pавновесие) distinguiert und unterschiedlich behandelt. Unterliegt „Balance“ ständigen Veränderungen im globalen Raum, so bedeutet „Gleichgewicht“ (равновесие) „ein gewünschter bzw. gesuchter Zustand“ (искомое состояние) und die Gewähr für die Verlässlichkeit der russischen Außenpolitik (S.12). Was damit gemeint ist, wird erst am Ende des ersten Teiles der Studie ersichtlich.

Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen außen- und geopolitischen Spannungen geht Trenin in Anlehnung an Hedley Bulls Studie „The Anarchical Society“ (1977) von der These aus, dass „die internationalen Beziehungen strenggenommen ein Raum der Anarchie ist“ (S. 24). Zwar bleibe das Westfälische System von 1648 nach wie vor das Fundament einer staatenzentrierten Weltordnung mit klar formulierten Spielregeln, die Kriege wurden aber dadurch mitnichten verhindert (S.25). Zwar habe das im 18./19. Jahrhundert bestehende europäische Gleichgewichtssystem die zwischenstaatlichen Kriege einhegen können; das Machtgleichgewicht reichte aber für die Existenz einer intakten Weltordnung bei weitem nicht aus (S. 26).

Kriege zu verhindern, war allerdings auch weder das Ziel noch der Sinn des europäischen Gleichgewichtssystems. Es war vielmehr ein System von Macht und Gegenmacht, wodurch die Großmächte sich wechselseitig beschränken, um die Welthegemonie oder gar die Weltherrschaft einer Großmacht zu verhindern5. Das europäische Gleichgewicht war im Übrigen immer schon eine prekäre Veranstaltung und – worauf Michael Stürmer zu Recht hinweist – „in Wahrheit eineHegemonialordnung, definiert aus dem Interesse der britischen See- und Handelsmacht“6. Denn es ging letztlich „um Sicherheit durch Gleichgewicht und stillschweigende englische Hegemonie“7. „Wenn das ein Widerspruch war – Gleichgewicht zu Lande, Hegemonie zu See -, so lag darin“ – fügt Stürmer (ebd., 24) hinzu – „doch die Voraussetzung der europäischen Stabilität, Ausdruck der British interests und Leitmotiv der großen Kämpfe der Epoche“. Nicht von ungefähr sprach Johann Heinrich Gottlob von Justi bereits 1759 von der „Chimäre des Gleichgewichts“.

Das Versailler System war nach dem Ersten Weltkrieg nicht mehr in der Lage, selbst diese „Chimäre“ wiederherzustellen und mit der Entstehung der bipolaren Weltordnung nach dem Zweiten Weltkrieg konnte von der europäischen Gleichgewichtstradition erst recht keine Rede mehr sein. Der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat nicht nur die bipolare Weltordnung des Kalten Krieges überwunden, sondern auch kein Gleichgewichtsystem wiederherstellen können. An Stelle der Bipolarität trat eine unipolare Weltordnung unter Führung des US-Hegemons und an Stelle des „Gleichgewichts des Schreckens“ das Grundproblem von Hegemonie und Gleichgewicht. „Das war allerdings auch nicht von langer Dauer“, stellt Dmitrij Trenin (S. 28) lapidar fest.

Russlands „imperiale Tradition“ und Pax Americana

Infolge der in den 2010er-Jahren stattgefundenen Finanzkrise, Chinas fulminanter Aufstieg zur ökonomischen Supermacht und Russlands innen- und außenpolitische Stabilisierung haben die gut zwanzig Jahre nach der Beendigung des Kalten Krieges andauernde US-Welthegemonie (Pax Americana) in Frage gestellt (S. 28). Zutreffend diagnostiziert Trenin die Entwicklung der vergangenen dreißig Jahre, wenn er konstatiert: Der westliche Triumphalismus führte nach der erfolgreichen Beendigung des Kalten Krieges teilweise zum Substituierungsversuch des UN-Völkerrechts durch den Hegemonialanspruch der USA und ihrer Verbündeten, die Weltordnung nach westlichen Spielregeln einrichten zu wollen. Eine solche „innovative“ Vorgehensweise sieht Trenin in der „Doktrin der humanitären Intervention“, die 1999 von der NATO gegen Jugoslawien angewandt wurde (S. 31 f.).

Mit dem Kosovo-Krieg (möchte man hinzufügen) wurde in der Tat die UN-Nachkriegsordnung mittels der sog. „humanitären Intervention“ erschüttert, indem das höchste Prinzip der UN-Charta, die kollektive Friedenssicherung, de facto außer Kraft gesetzt wurde und auf die „Friedensschaffung“ durch die vom US-Hegemon dominierte Weltordnung überging. Es war darum nur folgerichtig, wenn der Vorsitzende des Beratungsausschusses beim US-Verteidigungsministeriums Richard Perle 2002seine „tiefe Besorgnis“ darüber erklärte, dass den Vereinten Nationen das Recht zugesprochen werde, über Krieg und Frieden zu entscheiden, wo doch diese Berechtigung mit größerer Legitimation der NATO als der Gemeinschaft demokratischer Staaten zustünde (International Harald Tribune, 28.11.2002, S. 4). In dieser Äußerung von Richard Perle manifestierte sich geradezu paradigmatisch der Hegemonialanspruch der USA nach dem Kalten Krieg den globalen Raum im Namen von Demokratie und Menschenrechten nach eigenem Gusto gestalten zu wollen.

„Die humanitäre Intervention“ war allerdings keine NATO-Erfindung des Jahres 1999. Die hergebrachte Figur der „humanitären Intervention“ hat sich bereits im 19. Jahrhunderts – also im Zeitalter des europäischen Imperialismus – entwickelt, als die europäischen Großmächte mehrfach vor allem im Osmanischen Reich intervenierten, um die bedrohte christliche Bevölkerung zu schützen. Nie ließ sich freilich eindeutig die Frage beantworten, ob ein solches Eingreifen im Einklang mit dem damaligen Völkerrecht stand oder lediglich Ausdruck der Großmächterivalität war8.

Das bemerkenswerte Charakteristikum der russischen Geschichte bestehe nach Trenin darin, dass jede neue Etappe der russischen Staatlichkeit zwar die vorangegangene in vielerlei Hinsicht negiert, sie bleibt aber dessen ungeachtet der russischen Herrschaftstradition verhaftet, sodass der (radikale) Wandel (сменяемость) und zugleich die Kontinuität (преемсвеннсть) der russischen Staatlichkeit zwei Konstanten der russischen Geschichte sind und bleiben (S. 36 f.). Eine andere Besonderheit der russischen Geschichte sei die Überlebensfähigkeit des russischen Volkes. Das dürfte wohl daran liegen – merkt Trenin an -, dass die russische Kultur verschiedene Ethnien, fremde Kulturen und Religionen zu absorbieren in der Lage sei und kraft der geopolitischen Lage des Landes, seiner „geokulturellen Identität“ (геокультурная идентичность) und nationalen Interessen dazu verdammt sei, Toleranz zu praktizieren (S. 37).

Mit Bezug auf die imperiale Tradition Russlands stellt der Autor klar, dass es eine Illusion wäre, das Imperium in seiner ursprünglichen Form wiederherstellen zu wollen. Allein wegen des grassierenden Nationalismus in der Welt wäre dieses Abenteuer unmöglich. Russland selber habe ja nicht nur aufgehört, ein Imperium zu sein, sondern befinde sich längst in einem postimperialen Zustand (постимперское состояние, S. 39).

Die Zurückdrängung Russlands gegen Ende des 20. Jahrhunderts ging Hand in Hand mit der Expansion des Westens unter Führung des US-Hegemons, die in gewissem Sinne eine Art Revanche für die frühere russische Expansion auf Kosten der europäischen Großmächte gewesen sei. Der Westen habe nicht nur das infolge des Zweiten Weltkrieges verlorengegangene Ostdeutschland und Osteuropa zurückgewonnen, sondern seinen Einfluss auch auf das Baltikum, die Ukraine, Georgien und Moldau erweitert; neuerdings versucht er auch in Weißrussland Fuß zu fassen (S. 39). Das kleiner gewordene Russland, das seine Kontrolle selbst im unmittelbaren geopolitischen Umfeld verloren hat, steht allein wie ein Torso (особняком) da. Russlands Geschichte sei in seiner imperialen Variante endgültig zu Ende gegangen.

Die Russländische Föderation wurde ungeachtet dessen, dass viele in den 1990er-Jahren und Anfang der 2000er-Jahre erwartet haben, nicht Teil des politischen Europas und in Asien hielt man Russland sowieso als nicht dazu gehörig (S. 40). Russland sei, anders formuliert, weder Osten noch Westen, weder Europa noch Asien. Es reiht sich vielmehr in keine der geopolitischen Makrokonstruktionen ein (S. 41). Russland sei – geopolitisch betrachtet – eine selbständige, aber einsame Entität im globalen Raum. Es sei zwar infolge des Verlustes an Einfluss und der Verkleinerung seines gigantischen Staatsgebietes einsam geworden, das ermögliche ihm aber, sich von der erdrückenden Last der imperialen Verantwortung zu befreien (S. 41).

Von der Demarkationslinie des Ost-West-Konflikts entfernt, bekam Russland laut Trenin eine neue Chance, sich als „globaler Norden“ (мировой Север) zu behaupten, um mit dem amerikazentrierten Westen, dem von China dominierten Osten und dem bunten globalen Süden zusammenleben zu können (S. 41). Russland sollte aufhören, dem verlorenen Imperium nachzutrauen, und sich vielmehr als ein globaler Akteur unter anderen globalen Akteuren zu positionieren. Russlands Zukunft liegt in seiner Selbstverortung als „globaler Norden“. So könnte man Trenins Zukunftsvision charakterisieren.

Ob dieses faszinierende, vom Verfasser entworfene Weltbild von der friedlichen Koexistenz des „globalen Nordens“ mit den anderen globalen Akteuren sozusagen als Gegenentwurf zur Pax Americana zukunftweisend ist, sei dahingestellt. Eine geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen bleibt dessen ungeachtet nach wie vor bestehen.

Russische Zivilisation als Gegenentwurf zum westlichen Universalismus?

Das 21. Jahrhundert sei im Gegensatz zum 20. Jahrhundert die Epoche der Identität, nicht der Ideologien (S. 42). Dem kann man insofern zustimmen, als die Zeiten der ideologischen Blockkonfrontation des Kalten Krieges in der Tat unwiderruflich vorbei sind. Ob Ideologien im 21. Jahrhundert verschwunden sind und die Begriffe von Ideologie und Identität voneinander zu trennen sind, bleibt indes mehr als zweifelhaft. Ideologie kann auch zur Identität werden und umgekehrt. Das ist im Grunde nicht das Problem und spielt geopolitisch erst recht keine Rolle.

Als große Weltentwürfe im ewigen Machtkampf der rivalisierenden Großmächte werden Ideologien im 21. Jahrhundert nicht so sehr durch Identität als vielmehr durch Geopolitik substituiert. In seiner Auseinandersetzung mit der amerikanischen Außenpolitik zu Zeiten des Kalten Krieges merkte Henry Kissinger einst beiläufig an: „Die Aufgabe war umso schwieriger, als während des Kalten Krieges ein Großteil der innenpolitischen Debatten über die Eindämmungspolitik auf der Grundlage jenes klassischen amerikanischen Denkens geführt worden war, das geopolitische Erwägungen ganz einfach ausschloss“. Die Ideologie bestimmte die Außenpolitik (zurzeit des Kalten Krieges), wohingegen die Geopolitik heute die Außenpolitik dominiert. An Stelle des Kalten Krieges tritt heute der geoökonomische Bellizismus (kurz: Geo-Bellizismus), an Stelle der Ideologie Axiologie (als Außenideologie10).

Im Bann seiner Identitätsthese setzt sich der Verfasser mit der russischen politischen Kultur auseinander, die sich wesentlich von der europäischen durch ihre monistische Herrschaftsauffassung, die fehlende Gewaltenteilung, ihrem sakralen Charakter und vor allem durch die Machtvertikale auf Grundlage von „Sobornost`“ und „Symphonie“ unterscheidet, wobei „Sobornost`“ hier im Sinne der „Konsultation“ (консультативность) „als Mittel der Kongruenz mit Privatinteressen“ (S. 44) gedeutet wird. Nun ja, die Betrachtung der politischen Kultur entspricht zwar den gängigen Vorstellungen von der russischen Herrschaftstradition; sie treffen aber den substantiellen Unterschied zwischen der russischen und europäischen politischen Kultur in keinerlei Weise, zumal die Begriffe „Sobornost`“ und „Symphonie“ religiösen bzw. orthodoxen Ursprungs sind, welche den sakralen Charakter der russischen Herrschaftstradition nicht legitimieren.

„Sobornost`“ wurde schon von Nikolaj Berdjaev missverstanden. „Das Wort sobornost`“ – beteuerte Berdjaev – lässt sich angeblich „nicht in fremde Sprache übertragen“. Der Begriff sobornost` taucht zum ersten Mal im 11. Jahrhundert auf und ist eine alte Übersetzung des griechischen Wortes katholike und bedeutet „die von überallher gesammelte Kirche, die Kirche in ihrer Gesamtheit“. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts blieb der alte Sinn „sobornyj =katholisch“ in der orthodoxen Theologie bewahrt. Erst Chomjakov deutet das Wort in seiner Kirchenlehre neu und um11. Der wesentliche Unterschied zwischen der russischen und europäischen politischen Kultur besteht vielmehr im fehlenden Rechtscharakter der russischen Herrschaftstradition bzw. in der „fehlenden juristischen Fundierung von Macht und Glauben“12. Darum hat Trenin durchaus recht, wenn er „von der zivilisatorischen Eigenart Russlands (о цивилизационном своеобразии России)“ (S. 46) spricht.

Dass Russland heute im politischen, militärischen und axiologischen Sinne das europazifische Land (страна евротихоокеанская) im Gegensatz zu den euroatlantischen Ländern des Westens sei (S. 46), dem ist vorbehaltslos zuzustimmen. Geopolitisch, ideologisch und zivilisatorisch stehe Russland zwar einsam und allein, aber eben nicht isoliert da. Der Zerfall des Sowjetimperiums wurde nicht nur zur geopolitischen, sondern auch zur psychologischen Katastrophe, welche das Land traumatisierte. Der anfängliche Versuch, sich in die westlichen Strukturen zu integrieren und sogar eine Art „dritterWesten“ (третьий Запад) neben den USA und der EU im Rahmen der euroatlantischen Welt werden zu wollen (der Verfasser unterlag selbst nach eigenen Angaben dieser Illusion, S. 48 f.), ist bekanntlich kläglich gescheitert. Naivität rächt sich immer im politischen und erst recht im geopolitischen „Geschäft“.

„Indem Russland aufhörte, der Osten zu sein, ohne der Westen zu werden, werde das Russland des 21. Jahrhunderts der Norden, allerdings nicht im Sinne des geopolitischen Nordpols, sondern als eine eigenständige Entität im globalen Raum“ (S. 49).

Bei den außenpolitischen Auseinandersetzungen halte man oft den axiologischen Diskurs für nichts anderes als für einen Diskurs zur Verschleierung von Machtinteressen. Man dürfe allerdings – meint Trenin – nicht übersehen, dass die Machtinteressen bestimmte Basiswerte voraussetzen, um deren wegen es sich lohnt zu leben und zu kämpfen. Im Vergleich zu den europäischen seien die russischen Basiswerte (Familie, traditionelle Gendervorstellungen, die Bedeutung von Religion im privaten und öffentlichen Leben) viel konservativer. Der höchste politische Wert in der russischen Geschichte sei der russische „Staat“ (государство), der traditionell auf der Machtvertikale (вертикаль власти) beruht (S. 50).

Es ist nicht ganz klar, was hier unter dem russischen Begriff „Staat“ (gosudarstvo) verstanden wird. Der Begriff „Gosudarstvo“ stammt etymologisch vom „Gosudar`“ (Herrscher). Erst in der zweiten

Hälfte des 19. Jahrhunderts löst sich der Begriff gosudarstvo von seiner belastenden Etymologie infolge der Rezeption der deutschen Staatsrechtswissenschaft und der Etablierung der russischen Staatsrechtslehre. Bereits in seinem Werk „Russisches Staatsrecht“ definiert Ivan Andreévskij (1831- 1891) Gosudarstvo in Anlehnung an das deutsche Staatsrecht als „Gemeinschaft freier Menschen, die ein bestimmtes Territorium bewohnen und unter gemeinsamer (oberster) Herrschaft vereinigt sind“13.„Staat“ (gosudarstvo) wird aber von der russischen politischen Kultur bis heute immer noch de facto als Herrschergewalt wahrgenommen. Deswegen weist Trenin nachdrücklich darauf hin, dass der russische Mensch eine unausrottbare Sehnsucht nach Freiheit hat. Der Verfasser benutzt in diesem Zusammenhang den Ausdruck „natürliche Freiheit und Willkür“ (природная свобода и воля, S. 50). „Willkür“ (volja) ist ein uraltes russisches Wort, das ein naturwüchsiges, jedes Gesetztranszendierendes Freiheitsverlangen in sich trägt, oder – wie Reinhard Wittram es plastisch formuliert: Volja sei ein Freiheitsverlangen, „das der Übereinstimmung mit der Weite des Landes bedarf und sich im ausholenden Schwung der Kraft verwirklicht“14.

Dieser Freiheitsbegriff steht im krassen Gegensatz zum westlichen Freiheitsverständnis, das an den neuzeitlichen Rechtsbegriff gekoppelt ist, und genau darin besteht ein grundsätzlicher Dissens zwischen den sog. „westlichen Werten“ und der russischen Lebenskultur und Lebenstradition. Den Freiheitsbegriff, sofern er volja heißt, setzt Trenin mit dem „idealen Staat“ (идеальное государство) gleich, den der russische Mensch nicht auf die Gesetzgebung und bürokratische Maschinerie, sondern auf „das Haus der Gerechtigkeit“ (дом справедливости) bezieht, in dem die Ordnung auf der Grundlage des Gewissens und nicht der Gesetze beruht. Dieses russische Lebensverständnis nennt der Verfasser „eine wichtige irrationale Seite des russischen Bewusstseins“, die in der Konkurrenz zu der rationalen steht (S. 50), und sieht in der Gerechtigkeit (spravedlivost`) „den höchsten Wert“ (важнейшая ценность) des russischen (Rechts)Bewusstseins bzw. der russischen Lebenskultur neben der inneren Ordnung und äußeren Sicherheit (S. 50). „Spravedlivost`“ – meint Trenin an einer anderen Stelle (S. 52) – sei für die russischen Menschen wichtiger als legale und formale Gesetzlichkeit (zakonnost`).

Die sog. „irrationale Seite des russischen Bewusstseins“ negiert – wie man sieht – den neuzeitlichen Rechtsbegriff der westlichen politischen Kultur. Die Gründe liegen in der russischen Rechts- und Geistesgeschichte. Diese hat die seit dem 16./17. Jahrhundert in verschiedenen Etappen und in einem allmählichen Prozess stattgefundene neuzeitliche Rechtsentwicklung des Westens nie nachvollzogen. Gerechtigkeit (spravedlivost`) ist und bleibt darum ein inhärenter Bestandteil des russischen Bewusstseins. Das ist ein genuin russisches Rechtsdenken, das sich zum einen dem neuzeitlichen Rechtsverständnis entzieht (sieht man vom geliehenen Rechtsbewusstsein der russischen Rechtsprofessoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab) und zum anderen nicht mit der russischen Rechtswirklichkeit zu verwechseln ist15.

Selbst im sog. russischen liberalen Rechtsdenken des 21. Jahrhunderts findet man heute deutliche Spuren des tradierten russischen (Rechts)Bewusstseins. „Jeder Mensch (wie jedes Volk)“ – meinen zwei Repräsentanten dieses Denkens in ihrem gemeinsamen Werk „Die offenen Augen der russischen Themis“ (Göttin der Gerechtigkeit) – „dürstet geradezu nach Wahrheit (pravda) in ihrem höchsten biblischen Sinne, d.h. nach Gerechtigkeit (spravedlivost`), Barmherzigkeit und Edelmut. . . . Was oder wer kann aber die Suche nach Pravda garantieren? Auf diese Frage hat Russland seit Jahrhunderten (nur) eine Antwort: ein weiser, gerechter und großzügiger Herrscher. Nicht von ungefähr merkte Dostojevskij einst an: . . . Selbst wenn wir voller Sünde, Unwahrhaftigkeit und Versuchung sind, trotzdem gibt es auf Erden irgendwo einen Heiligen und Höchsten; er hat die Wahrheit, er kennt die Wahrheit, folglich stirbt die Wahrheit nicht auf der Erde und irgendwann kommt sie auch zu uns, um in der ganzen Welt, wie versprochen, zu herrschen.“15a

Hinter diesem russischen (Rechts)Bewusstsein steht ein unausgesprochener Vorwurf an die Adresse des Westens: Er sei „gefühllos“, „seelenlos“, „funktional“, „rationalistisch“, „buchhalterisch“ und nicht zuletzt „sittenverrohrt“. Auf diesen Vorwurf reagiert das neuzeitliche Freiheits- und Rechtsverständnis mit dem Hinweis darauf, dass die „Autonomie, das selbständige Dasein des Rechts“ nicht nur dem „zweckrationalen“, „funktionalen“ und „buchhalterischen“ Denken und Handeln gerecht wird, sondern auch „selbst sittlich begründet“ ist16.

3. Die Ära Gorbačev und El`cin

Die Frage nach der Stellung Russlands in der Welt sei heute aktueller denn je (S. 62). Russlands Bestreben, ein „normales Land“ nach dem Untergang des Sowjetimperiums (1991) zu werden, würde nicht vom Erfolg gekrönt (S. 69). Anfang des 21. Jahrhunderts sei es zwar eine Großmacht, aber eben eine zweitklassige hinter den USA, China und der EU geblieben, und stehe auf einer Stufe mit Indien, immerhin noch vor Japan, Großbritannien und Brasilien (S. 70). Die russische Machtelite habe keine Ambitionen auf Weltherrschaft, sei aber gleichzeitig auch nicht bereit, die Weltdominanz einer Großmacht oder einer Staatengruppe zu akzeptieren (S. 72). Russlands gegenwärtiger Weltstatus profitiert immer noch von der Weltstellung der Sowjetunion als Siegermacht des Zweiten Weltkrieges. Die Geschichtspolitik sei darum ebenso wichtig für die russische Außenpolitik (S.74), wie die Sicherheitspolitik, die überwiegend einen defensiven Charakter trägt (S.75). Um eine Großmacht auf Dauer bleiben zu können, bedürfe Russland einer ökonomischen Prosperität. Solange das gegenwärtige, die ökonomische Entwicklung bremsende polit-ökonomische System bestehe, kann von einer ökonomischen Prosperität keine Rede sein (S. 76). Nachdem Russland die Sowjetideologie und die Ambitionen auf den Status einer Supermacht weit hinter sich gelassen habe, soll seine Mission im 21. Jahrhundert vor allem „Russland selbst“ (сама Россия) sein: sein Volk, sein Land, seine Natur (S. 89). Warum ist Russland aber in eine solch prekäre weltpolitische Lage geraten? Auf diese Frage antwortet Dmitrij Trenin mit einer eingehenden Analyse und einer umfangreichen Darstellung der Ära Gorbačev, El`cin und Putin.

Gorbačevs gescheiterte Reformpolitik

In dem zweiten Teil seines Werkes lässt Dmitrij Trenin die Außenpolitik Russlands der vergangenen fünfunddreißig Jahre Revue passieren. Es ist eine lehrreiche und fesselnde Geschichte, die er erzählt. Sie zeigt vor allem, welche turbulenten Zeiten Russland erlebt und überlebt hat. Alle russischen Staatsoberhäupter Boris El`cin, Vladimir Putin, Dmitrij Medvedev und dann wieder Vladimir Putin stehen laut Trenins Kernthese auf den Schultern von Gorbačevs Außenpolitik. Russland habe sich dankGorbačev von der Selbstisolation des Sowjetsystems sowie von der das Land gefesselten Ideologie des Marxismus-Leninismus befreit (S. 103). Die These ist nicht ganz unumstritten, blieb Gorbačev selber bis zuletzt ein überzeugter, ja gläubiger Kommunist.

Die sinnlose Militarisierung der Sowjetökonomie habe ebenso ein Ende gefunden, wie die anschließende Öffnung der Landesgrenzen. Kurzum: Trenin zollt Gorbačev für seine außenpolitischen Leistungen den größtmöglichen Respekt trotz oder gerade wegen der in Russland nach wie vor weit verbreiteten Ablehnung Gorbačevs als Person und seiner Außenpolitik, die zu dem Zerfall der UdSSR – „der größten geopolitischen Katastrophe“ (Putin in seiner 2006 gehaltenen Rede vor der Föderalen Versammlung) – geführt hat.

Gorbačevs Reformen waren zwar laut Trenin aus der heutigen Sicht zum Scheitern verurteilt und manche westlichen Führer (namentlich wird Margaret Thatcher erwähnt) haben das Scheitern auch vorausgesehen. Keine(r) hat aber im Westen mit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems gerechnet oder gar den Zusammenbruch des Sowjetimperiums vorausgesagt. Nur einer – soweit ich weiß – hat den Untergang des Imperiums prophezeit. Es war ausgerechnet der sowjetische Dissident Andrej Amal`rik, der den Untergang des „ostslawischen Imperiums“ in seinem bereits 1969 entstandenen und aufsehenerregenden Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“ (Zürich 1970) vorausgesagt. Im „ostslawischen Imperium“ wurde er für verrückt erklärt und in der westlichen „glorreichen“ Sowjetologie zunächst belächelt und dann ganz vergessen.

Trotz der Krise des sowjetischen Sozialismus gegen Mitte der 1980er-Jahre und zahlreicher Niederlagen in der Außenpolitik war – merkt Trenin an – die anfängliche krisenhafte Situation noch nicht lebensbedrohlich. Die chinesischen Transformationserfolge des kommunistischen Systems in den vergangenen vierzig Jahren haben ja gezeigt – glaubt der Verfasser zu wissen -, dass „die Aufgabe prinzipiell lösbar“ ist. „Der sowjetische Versuch der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre demonstriert nicht die Fehlerhaftigkeit des Versuches als solchen, das System zu transformieren, sondern (lediglich) den falschen Weg, den die Reformen eingeschlagen haben“ (S. 113).

Warum aber dieser „Weg“ „falsch“ war und warum insbesondere Gorbačevs Wirtschaftsreformen erfolgloser als die chinesischen geblieben und letztlich gescheitert sind, darauf geht Trenin nicht ein. Das ist auch mehr als verständlich, ist der Verfasser ein außenpolitischer Experte und kein Wirtschaftswissenschaftler. In Gorbačevs ökonomischen Reformen war aber gerade das Scheitern des Systems bereits angelegt.

Die zentralgesteuerte Planwirtschaft bedeutet, „dass die Zentrale eine unbedingte Kontrolle der Produktion und eine bedingte Kontrolle des Konsums ausüben, während sich die Vermögensbildung der Kontrolle durch die Zentrale entzieht“17. Gorbačevs Perestroika führte nun aber dazu, dass die Zentralsteuerung der Produktion dergestalt monetär zurückgedrängt wurde, dass die Zentrale auf eine Mengenplanung und teilweise auch auf die „unbedingte Kontrolle der Produktion“ zugunsten derMarktmechanismen verzichtete, wodurch eine merkwürdige Mischung von vertikaler Planung und horizontalen Marktbeziehungen entstanden ist. Diese infolge der Perestroika entstandene Mischmasch-Ökonomie führte zur Entfaltung und zugleich zur Begrenzung der Marktkräfte. Die entstandenen Marktbeziehungen dürften einerseits die Plankontrolle nicht durchbrechen, die Monetisierung der Güterhortung der Betriebe führte aber andererseits zur Gefahr einer unkontrollierten Inflation. Nachdem der monetäre Geist aus der sozialistischen „Büchse der Pandora“ entwichen war, der das gesamte Sowjetsystem zunächst von innen ausgehöhlt und dann schließlich zum Fall gebracht hat, war es praktisch nicht mehr möglich, dieses monetäre „Übel“ zurück in die planwirtschaftliche „Büchse der Pandora“ zu zwingen. Diese Dysfunktionalität der Sowjetökonomie in deren Endstadium begleitete Gorbačev praktisch in seiner gesamten Reformpolitik bis zum Zusammenbruch des Systems18.

Zwar hat Gorbačev den maßgeblichen Beitrag dazu geleistet, den Kalten Krieg zu beenden (S. 116). Aber: Zu welchem Preis? Zum Preis eines geoökonomischen Desasters. Im Zeitalter der Geoökonomie reicht es nicht mehr aus, allein Gorbačevs außenpolitische Erfolge hervorzuheben. Dass der Kalte Krieg von der Sowjetunion „verloren wurde“ (была проиграна), war genauso wichtig zu betonen (weil manche Sowjetnostalgiker dieses historische Faktum nach wie vor entschieden bestreiten), wie die Tatsache, dass die bipolare Welt der Nachkriegszeit nach der erfolgreichen Beendigung des Kalten Krieges in den 1990er-Jahre und Anfang des 21. Jahrhunderts unipolar geworden ist (S. 134).

Die Pariser Charta vom 21. November 1990 verschleierte lediglich diese – meint Dmitrij Trenin zu Recht – neue unipolare Weltordnung und Moskau gab sich der Illusion des gemeinsamen Sieges der UdSSR und der USA im Kalten Krieg hin (S. 134 f.). Bereits in der Ära Gorbačev haben sich zwei außenpolitischen Lager ausgebildet, die sich bis heute erbittert bekämpfen: diejenigen, die eine offene und transparente Außenpolitik befürworten, und diejenigen, die in den internationalen Beziehungen stets nur noch Machtkampf aller gegen alle sehen, den Westen für einen ewigen Gegner halten und Russland selbst als eine Festung mit zwei zuverlässigsten Verbündeten ansehen: Arme und die Flotte (S. 147).

Die Hauptlehre, die Trenin aus der Epoche Gorbačev zieht, ist die Tatsache, dass die Militärmacht und die Staatssouveränität für eine erfolgreiche Außenpolitik genauso, wie für das Überleben des „Staates“ selbst unzureichend seien. Denn die Sowjetunion sei schließlich trotz ihrer gewaltigen Militärmacht untergegangen. Ergänzend zu Trenins Feststellung muss man allerdings hinzufügen: Die Sowjetunion war in Wahrheit kein „Staat“, sondern ein Imperium, eine Raummacht, die durch einen Zwangsfrieden zusammengehalten wurde. Sobald Gorbačev den ideologisch und militärisch erwirkten Zwangsfrieden durch Freiheitsräume (in welchem Sinne auch immer) zu substituieren versuchte, brach das imperiale Machtgebäude wie ein Kartenhaus zusammen. Offenbar hatte der italienische Rechtsgelehrte Pasquale Mancini mit seiner berühmten Äußerung doch recht, als er 1851 behauptete: „Ein Staat, in dem viele kräftige Nationalitäten zu einer Einheit gezwungen werden“, sei kein „corpo politico“, sondern ein „lebensunfähiges Ungeheuer“19.

Das Sowjetregime – meint Trenin zum Schluss seiner Schilderung der Ära Gorbačev – habe nicht den Krieg verloren, sondern sich infolge einer freundschaftlichen Umarmung jener, die kurz zuvor die Erzfeinde gewesen waren, einfach in Luft aufgelöst (испарилась, S. 160). Nicht der blutige Krieg, sondern eine militärische und ideologische Entspannungspolitik sei zum Verhängnis des Systems geworden und habe dem Regime die Legitimation seiner Existenz entzogen.

Eine solche ausschließlich außenpolitische Betrachtung der Ära Gorbačev bei gleichzeitiger Ausklammerung der verfehlten ökonomischen Reformen verengt freilich den Blick des Betrachters und macht seine Analyse dadurch unvollständig.

Die 1990er-Jahre

Die fehlende ökonomische Analyse der Reformen Gorbačevs wirkt sich auch nachteilig auf die ansonsten ausgezeichnete, ja glänzende außenpolitische Darstellung der Ära El`cin und Putin aus. Bereits am Anfang seiner Analyse der Regentschaft El`cins stellt Trenin fest, dass El`cin und seine Protagonisten das Sowjetsystem zugrunde richten wollten, was ihnen auch gelungen sei (S. 162). Bemerkenswert ist dabei Trenins These, dass es sich bei El`cins Machkampf gegen Gorbačev in den Jahren 1990/91 nicht so sehr um die Unabhängigkeit der Russländischen Föderation von der Union ging, als vielmehr um den Ausstieg Russlands aus seiner imperialen Tradition zwecks Bildung eines eigenen „multinationalen russländischen Staates“ mitten des zerfallenden Imperiums (S. 163).

Die These ist zumindest diskussionswürdig. Sie scheint einerseits die Ereignisse um den erbittert geführten Machtkampf zwischen El`cin und Gorbačev apologetisch nachträglich zu legitimieren; andererseits bestätigt diese Apologie kein geringerer als Gajdar – die „Lichtgestalt“ der ökonomischen Reformen der 1990er-Jahre. In seinem 2006 veröffentlichten Spätwerk „Гибель империи“ (Untergang des Imperiums) schreibt er: „Der Versuch, aus Russland erneut ein Imperium zu machen, bedeutet seine Existenz in Frage zu stellen“ (Пытаться вновь сделать Россию империей – значит поставить под вопрос её существование, стр. 10).

Die Überwindung der Sowjetideologie und der imperialen Tradition führte laut Trenin zu El`cins Entscheidung für die „liberale Demokratie“ (в пользу либеральной демократии, S. 166). Ist man noch bereit, dem ersten Teil der Äußerung zuzustimmen, so wundert man sich schon über den zweiten Teil umso mehr: Von einer „liberalen Demokratie“ im Russland der 1990er-Jahre kann gar keine Rede sein. Selbst Gajdar und seine Entourage hätten diese Äußerung weit von sich gewiesen.

Trenins außenpolitische Darstellung der Ära El`cin ist ausgezeichnet, leidet aber am fehlenden ökonomischen Verständnis der Reformen Gajdars und seiner Nachfolger, was man an folgenden Äußerungen festmachen kann: Das postsowjetische Russland der Ära El`cin richtete sich verfassungsrechtlich, politisch, ökonomisch und ideologisch nach westlichem Modell. Russlands Integrationsversuch stieß aber nach Trenins Auffassung auf einen erbitterten Widerstand sowohl seitens der Machteliten als auch seitens der Bevölkerung (как верхов, так и низов). „Die Machteliten“ – liest man weiter –, „die Gajdar und seiner Mannschaft erlaubten, das sowjetische Modell zu zerstören, haben aber die Reformer daran gehindert, die Marktreformen konsequent durchzusetzen. Statt eines freien Marktes hat die Staatswirtschaft in Russland in ihrer oligarchischen Gestalt gesiegt“ (S. 168). Dass „Machteliten“ Gajdars Reformen behindert haben, ist ein von den Anhängern und Apologeten der gescheiterten Reformen der 1990er-Jahre fabulierter Mythos, der offenbar bis heute in der sog. „liberalen“ Öffentlichkeit fortlebt. Hier rächt sich eine fehlende ökonomische und wirtschaftstheoretische Analyse der 1990er-Jahre.

Die Jungreformer waren Amateure und hatten nur vage Vorstellungen von einer funktionierenden Marktwirtschaft. Boris Fedorov – einer der wenigen klugen und kompetenten Köpfe in Gajdars Regierungsmannschaft – beschreibt eindrucksvoll die ökonomische Bildung jener Zeit: „Es gab keinen einzigen Menschen mit einer mit dem Westen vergleichbaren ökonomischen Bildung. Nur eine kleine Gruppe der Ökonomen (Gajdar, Šochin, Aven, Illarionov, Sergej Vasil`ev) oder Experten (wie ich) haben sich autodidaktisch mehr oder weniger Vorstellungen über die Natur der Marktwirtschaft gebildet“20.

Dass selbst Gajdar die grundlegenden Kenntnisse von westlichen ökonomischen Theorien und Doktrinen besaß, darf ebenfalls bezweifelt werden. Die Analyse seiner Publikationen vor der Übernahme der Regierungsverantwortung zeigt vielmehr „die Begrenztheit einer solchen theoretischen Kompetenz“21. „Das Ergebnis“ war – resümiert Fedorov (ebd.) -, „dass die Reformen im Grunde von wirtschaftlich ungebildeten Personen in Angriff genommen wurden, die keine Ahnung hatten, was wie gemacht werden soll“.

Es gab allerdings zugegebenermaßen ein Problem: Die bestehenden Machtstrukturen dachten gar nicht daran, ihre Machtpositionen widerstandslos aufzugeben. Das Ergebnis dieser äußerst

unübersichtlichen, ja chaotischen Übergangsperiode bestand schließlich darin, dass die postsowjetische Realität lediglich marktideologisch neolegitimiert wurde, ohne dass die Jungreformer die überkommenen Machtstrukturen von Staat, Verwaltung und Gesellschaft zerschlagen und dadurch eine funktionierende Marktwirtschaft implementieren konnten. Das war die eigentliche Tragödie der von ihnen in Gang gesetzten Transformation, die sich dann letztlich als Farce herausstellte22.

Was nun Trenins lesenswerte Darstellung der Außenpolitik Putins betrifft, so kann sie in einem von dem Verfasser prägnant formulierten Satz zusammengefasst werden: „Das Wichtigste für Russland ist nicht die Weltordnung an und für sich, sondern die Stellung Russlands in dieser Weltordnung“ (Главное для России – не миропорядок сам по себе, а место России в этом миропорядке, S. 246).

4. Gleichgewichtsidee oder geopolitische Romantik?

Die Haupttendenzen der 2020er-Jahre sei die Entstehung einer Weltordnung, in welcher der Westen zum ersten Mal seit Jahrhunderten keine dominierende Rolle mehr spielen werde. Die liberale Demokratie, die den Sowjetkommunismus im Kalten Krieg triumphierend besiegt habe, konnte sich in den außerwestlichen Teilen der Welt nicht etablieren; zudem finde Im Westen eine Schwächung der tradierten christlichen Werte statt, an deren Stelle die Werte des Transhumanismus treten. Die Fragen von Moral, Sitten und Ethik treten an die Stelle des in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierten Aufbaus der demokratischen Institutionen. Der Westen ändere rasch sein Gesicht und seine Außenpolitik werde ideologisch umformatiert (S. 251). Zwar gebe es keine universale Alternative zur liberalen Demokratie; zwar schließen sich die Gegner des Westens nicht in einen geopolitischen Block zusammen. Was sie aber eint, sei ihre Gegnerschaft zum westlichen Universalismus.

Vor dem Hintergrund dieser weitreichenden Transformation der Weltordnung entwickelt Dmitrij Trenin in Anlehnung an die Grundthese seines Werkes, dass nämlich eine erfolgreiche Außenpolitik eine Gleichgewichtspolitik sei (S. 12), im letzten Abschnitt des ersten Teiles eine Gleichgewichtidee (идея равновесия) als die Leitidee der russischen Außenpolitik: Gleichgewicht bedeute per definitionem, dass die russische Außenpolitik vor allem den Bedürfnissen des Landes und Volkes, nicht aber den Ambitionen der Politiker entsprechen solle. Sie muss sich im Gleichgewichtszustand mit der Innenpolitik befinden (S. 90). „Die Leitidee der russischen Außenpolitik“ – lesen wir an einer ganz anderen Stelle – „soll für die kommenden 20-30 Jahre zur Förderung der inneren Entwicklung Russlands selbst (nicht nur der ökonomische) werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es der Ausbildung und Unterstützung eines dynamischen Gleichgewichts in der Innen- und Außenpolitik Russlands“ (S. 266 f.). Was soll all das heißen?

Es geht zunächst einmal um einen inneren Konsensus der Eliten als die Voraussetzung für eine erfolgversprechende Außenpolitik (S. 91). In den internationalen Beziehungen bedeute wiederum die dynamische Gleichgewichtidee – beteuert der Verfasser – weder „eine europäische Machtbalance des 18./19. Jahrhunderts“ noch „die sowjetisch-amerikanische militärstrategische Parität der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts“ (S. 91).

An den folgenden Beispielen sucht Trenin seine dynamische Gleichgewichtsidee zu entwickeln:

1. Ohne die Weltdominanz zu beanspruchen, könnte Russland bei gleichzeitiger Verteidigung der eigenen nationalen Interessen einen Konflikt mit den USA garantiert vermeiden, der zu einem atomaren Krieg (к ядерной войне) ausarten könnte.

2. Russland würde alle Anstrengungen unternehmen, um die anbahnende globale Rivalität zwischen den USA und China vom militärischen Zusammenprall abzuhalten. Das Gleichgewicht bedeute in diesem Falle keine Machtbalance zwischen Washington und Peking, sondern eine unabhängige von den eigenen Interessen geleitete Außenpolitik (S. 91). Trenin schwebt hier anscheinend eine geopolitische Vermittlungsfunktion Russlands zur Vermeidung eines globalen Krieges vor. Was Trenin hier vorschwebt, ist Russland – wie er es in Anlehnung an Sergej Karaganov nennt – als „globalen Lieferanten für Sicherheit“ (мировой поставщик безопасности) zu implementieren.

3. Die Gleichgewichtpolitik besteht auf der regionalen Ebene in der Förderung von Frieden und Stabilität in Europa und Asien: In Europa bedeutet sie die Vermeidung eines militärischen Konflikts zwischen Russland und der NATO. Sie muss ferner bestrebt sein, eine langfristige Stabilität an den Grenzen zur Ukraine und Weißrussland ebenso, wie in Moldau, Südkaukasus und Mittelasien zu schaffen (S. 93).

4. Auch zur Vermeidung der Rivalität zwischen China und Indien kann Russland eine vermittelnde Funktion übernehmen, auf der Suche nach Vermeidung von Spannungen zwischen den beiden Giganten. Zugleich lehnt Trenin es ab, aus Russland einen professionellen internationalen Vermittler zu machen (S. 94). Aus all diesen Beispielen geht nicht eindeutig hervor, was unter „Gleichgewichtidee“ eigentlich zu verstehen ist. Die pure Existenz Russlands als geopolitischer Machtfaktor scheint Treninoffenbar auszureichen, um seine Gleichgewichtidee zu postulieren. „Die alleinige Existenz Russlands“ – hebt er hervor – sei „als eine unabhängige und einflussreiche Entität ein Machtfaktor, der auf die Weltlage ausgleichend wirken kann. Die Gleichgewichtpolitik, die zu beiden rivalisierenden Supermächten USA und China auf gleiche Distanz geht, sei unbedingt wichtig zur Vermeidung erneuter Blockbildungen“ (S. 96). Eine dynamische Gleichgewichtspolitik lehne eine ständigeBündnispartnerschaft ab, weil ein solches Bündnis – falls es um die USA und China gehe – faktisch einem Unterwerfungsvertrag nahekomme, was völlig inakzeptabel sei (S. 280).

Erneut stellt Trenin unmissverständlich klar, dass seine dynamische Gleichgewichtsidee weder „die Machtbalance im Geiste der abstrakten Politologie des 20. Jahrhunderts“ noch „die europäische Machtbalance des 18./19. Jahrhunderts“ sei (S. 278).

Was Trenin hier mit seinem „dynamischen Gleichgewicht“ immer wieder wortreich versucht zu erklären, ist nichts anderes als eben die von ihm abgelehnte altehrwürdige europäische Machtbalance des 18./19. Jahrhunderts, die er als „Spiel mit ‚Balancen‘ im Stil der europäischen Kabinettpolitik des 18./19. Jahrhunderts“ (S. 278) missdeutet. Das europäische Gleichgewichtssystem war zumindest der Idee nach kein Balance-Spielchen. Das Balance-Denken war vielmehr „das qualifizierende Prinzip einer Politik des Miteinanderauskommens. Es war ein regulatives und kein konstitutives Ordnungsprinzip“, das heißt: (in Trenins Terminologie übersetzt) eben dieses regulative, dynamische Ordnungs- bzw. Gleichgewichtsprinzip. „Das Gleichgewicht innerhalb der Staaten und zwischen den Staaten erforderte zu seiner Behauptung bzw. seiner Wiederherstellung permanente Politik, die von allen Beteiligten fortlaufend und gleichzeitig betrieben werden musste, da jede Störung nunmehr das Ganze anging“23.

Lange Rede, kurzer Sinn: Die Balance erschöpfte sich „in einer instrumentellen Leitungsfunktion, die nur eine einzige praktische Maxime kannte, nämlich das Gleichgewicht im Staat und zwischen den Staaten. Das bedeutete gegenüber dem, was sie als gegeben vorfand, Toleranz“24. Und nichts anderes will uns Trenin mit seiner dynamischen Gleichgewichtsidee sagen, falls ich richtig verstanden habe.

Diese Gleichgewichtidee hält freilich der geopolitischen Realität der Gegenwart nicht Stand, und zwar nicht etwa, weil Russland geopolitisch „zweitklassig“ sei (wie Trenin selbst behauptet), sondern weil sie die geoökonomische Seite der Großmächterivalität komplett ausklammert. Der Verfasser und (mit ihm) die gesamte russische außenpolitische Elite verkennen die geoökonomische Realität des 21. Jahrhunderts, stehen sie doch immer noch in der Tradition der sowjetischen sicherheitspolitischen und militärischen Doktrin, die stets darauf bedacht war, eine atomare Gleichgewichtsparität zu gewährleisten.

Im Zeitalter der Geoökonomisierung der Geopolitik reicht eine solche geopolitische Doktrin nicht mehr aus. Heute geht es vielmehr um eine geoökonomische Rivalität, Konfrontation und Eskalationsdominanz der Groß- und Supermächte, die in sich bereit einen geopolitischen Bellizismus (kurz: Geo-Bellizismus) tragen. Diesem Geo-Bellizismus ist Russland heute nicht gewachsen!

Gerade der Transformationsprozess im Russland der 1990er-Jahre zeigt, wie erdrückend die geoökonomische Vergewaltigung Russlands gewesen war25. Die politischen und ökonomischen Folgewirkungen dieser Transformation sind in Russland bis heute festzustellen.

Die außenpolitische Elite Russlands verkennt darum immer noch die Existenz zweier in den ersten zwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts dank einem fulminanten ökonomischen Aufstieg Chinas ausgebildeten globalen Triaden:

1. Eine mächtige geopolitische Triade (Kissingers sog. „großes strategisches Dreieck“), die aus den USA, Russland und China besteht.

2. Eine mächtige geoökonomische Triade, die aus den USA, China und der EU besteht.
In den beiden globalen Triaden sind gleichzeitig nur zwei Machtzentren vertreten: die USA und China, was eine herausragende globale Bedeutung der beiden nur noch unterstreicht, wohingegen Russland und die EU in der jeweils anderen Triade fehlen. Dieses doppelte, mit unterschiedlichem Machtgewicht ausgestattete Triaden-Geflecht entscheidet über die Zukunft des globalen Raumes.

Gewinnt die Geoökonomie die Überhand, wird Russland auch geopolitisch marginalisiert und vom Zerfall bedroht. Setzt sich die Geopolitik durch, steigt Russland erneut auf, und zwar unabhängig von seiner ökonomischen Potenz. Die EU wird hingegen bei diesem Szenario ihre geoökonomische Machtstellung verlieren und anschließend zerfallen.

Verlieren die USA ihre monetäre Vormachtstellung im globalen Raum, werden sie geoökonomisch und geopolitisch mit der Folge marginalisiert, dass die USA nicht mehr die Vereinigten Staaten heißen und in die einzelnen Staaten zerfallen würden.

Übersteht China die geopolitische und geoökonomische Konfrontation mit dem US-Hegemon, geht es gestärkt daraus hervor, steigt unweigerlich zur dominierenden, globalen Weltmacht auf und löst die US-Hegemonie ab26.

Da bleibt nur zu hoffen, dass Trenins Gleichgewichtsidee keine geopolitische Romantik bleibt. Was kommt, können wir leider nicht voraussagen. „Denn Prognosen über die Zukunft könnte es nur geben, wenn es keine Zukunft mehr gäbe . . .“27

Anmerkungen

  1. Тренин, Д., Россия и Мир в XXI веке. Москва 2015. Siehe dazu Silnizki, M., Außenpolitisches Denken in Russland. Im Strudel von Geopolitik und Identitätsdiskurs. Berlin 2018, 145 ff., 182 ff.
  2. Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Альпина паблишер. Москва 2021.
  3. Wittram, R., Tradition und Geschichte, in: des., Das Interesse an der Geschichte. Zwölf Vorlesungen über Fragen des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses. Göttingen 1958, 95-110 (105).
  4. Wittram (wie Anm. 3), 105.
  5. Link, W., Die europäische Neuordnung und das Machtgleichgewicht, in: ThomasJäger/Melanie Piepenschneider (Hrsg.), Europa 2020. Szenarien politischer Entwicklungen.Opladen 1997, 9-31 (11).
  6. Stürmer, M., Die Kunst des Gleichgewichts. Europa in einer Welt ohne Mitte. München 2001,40.
  7. Stürmer (wie Anm. 6), 27.
  8. Vgl. Tomuschat, Ch., Völkerrechtliche Aspekte des Kosovo-Konflikts, in: Die Friedens-Warte74 (1999), 33-37 (33).
  9. Kissinger, H., Die Vernunft der Nationen. Über das Wesen der Außenpolitik. Berlin 1994, 782.
  10. Dazu Silnizki, M., Russland und der Westen. Axiologischer Irrweg der westlichen Geopolitik.Berlin 2015, 26 ff.
  11. Näheres dazu Silnizki, M., Russische Wertlogik. Im Schatten des westlichenWertuniversalismus. Berlin 2017, 83 f.
  12. Silnizki (wie Anm. 11), 69.
  13. Андреевский, I. E., Русское государственное право. Москва 1866, § 1.
  14. Wittram, R., Die Freiheit als Problem der russischen provisorischen Regierung (März bis Juli1917). Gottingen 1973, 4.
  15. Näheres dazu Silnizki (wie Anm. 11), 111 ff.
    15a Краснов, М. А/Мишина,Е. А., Открытые глаза российской Фемиды. Москва 2007, 23.
  16. Wieacker, F., Pandektenwissenschaft und Industrielle Revolution (1966), in: des.,Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung. Frankfurt 1974, 55 – 78 (61).
  17. Riese, H., Geld im Sozialismus. Zur theoretischen Fundierung von Konzeptionen desSozialismus. Regensburg 1990, 37.
  18. Näheres dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2020, 30 ff.
  19. Zitiert nach Schieder, Th., Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa. Hrsg. v. Otto Dann u. Hans-Ulrich Wehler. Göttingen 21992, 38.
  20. Федоров, Б., Время для либеральных реформ в России ещё не пришло. Коммерсантъ 4.02.1999.
  21. Шматко, А., «Топосы» российской экономической реформы: от ортодоксального марксизма к радикальному либерализму. Социология под вопросом. 2005, 149-184.
  22. Dazu Silnizki (wie Anm. 18), 21 f.
  23. Kluxen, K., Zur Balanceidee im 18. Jahrhundert, in: Vom Staat des ancien Regime zummodernen Parteienstaat. FS f. Theodor Schieder. München Wien 1978, 41-58 (57).
  24. Kluxen (wie Anm. 23), 57 f.
  25. Siehe Silnizki, Geoökonomie der Transformation (wie Anm. 18).
  26. Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 94ff.
  27. Junker, D., Power and Mission. Was Amerika antreibt. Freiburg 2003, 174.
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