Verlag OntoPrax Berlin

Perspektivlose Russlandpolitik

Zwischen Krieg und Frieden

Übersicht

1. Anti-Haltung als Richtschnur der Russlandpolitik?
2. Der Westen und der Rest der Welt
3. Zur Reanimierung des alten Feindbildes

Anmerkungen

„Je schlimmer das Chaos um uns herum, desto
schlichter die Bilder, die uns anziehen.“
(George Urban)1

1. Anti-Haltung als Richtschnur der Russlandpolitik?

Der Eiserne Vorhang ist gefallen! Hoch lebe der Eiserne Vorhang!? Wir steuern auf eine neue Teilung Europas zu. Sie ist nicht mehr ideologischer, wohl aber geo- und sicherheitspolitischer Natur. Die Zeiten der ideologischen Systemkonfrontation und der bipolaren Weltordnung sind unwiderruflich vorbei. Diese triviale Feststellung wird allerdings nach wie vor ideologisch hinterfragt. Denn wir sind immer noch den ideologischen Gefechten des 20. Jahrhunderts verhaftet, auch wenn wir heute statt von „Kapitalismus versus Kommunismus“ „urplötzlich“ den Gegensatz „Demokratie versus Autokratie“ (Joe Biden) entdeckten.

Hinter diesem ideologischen Nebel verbergen sich jedoch meistens knallharte geopolitische und geoökonomische Interessen. Als Reaktion auf den Ukrainekrieg errichtet der Westen nunmehr einen neuen Eisernen Vorhang, indem er nicht nur (beinahe) alle ökonomischen Beziehungen mit Russland abbricht und mit seiner militärischen Hilfe an die Ukraine die Entwicklungen auf dem Kriegsschauplatz massiv zu beeinflussen sucht, sondern auch einen geopolitischen Feldzug gegen Russland führt, versteckt hinter der ideologischen Fassade und wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ durch antirussische Ressentiments geschürt.

Eine solche Russlandpolitik führt in eine Sackgasse. Sie ist in Anbetracht der geopolitischen und geoökonomischen Umwälzungen der vergangenen dreißig Jahre nicht mehr zeitgemäß. Es fehlt eine positive Agenda. Vielmehr verstecken die EU-Europäer sich hinter den ideologischen Parolen, rechtfertigen und orientieren sich überwiegend an Wertvorstellungen, deren abstrakte Existenz nur auf der Oberfläche völlig unabhängig von der geo- und sicherheitspolitischen Realität besteht, hintergründig aber gerade von dieser Realität ursächlich und maßgeblich geprägt und geleitet, und mit Verweis auf die bloße Existenz eines als antidemokratisch und antiliberal charakterisierten Russlands aktiviert und aktualisiert wird.

Dieser Russlandpolitik liegt darüber hinaus ein Russlandbild zugrunde, das eine zeitgemäße Russlandstrategie erschwert. Dieses Russlandbild ist nicht nur stets an einer Abwehrhaltung gegen den sog. „russischen Autoritarismus“ gekoppelt, sondern auch auf eine absolut negative Vorstellung dessen fixiert, was Russland überhaupt ist. Und dieser Negation steht wiederum eine ebenso absolut positive eigene Selbstwahrnehmung und Selbstbeschreibung gegenüber. So kommt es unweigerlich dazu, dass die Außenpolitik, die eigentlich zuallererst den nationalen Interessen dienen und ihr Augenmerk darauf ausrichten sollte, sich tatsächlich aber primär von der absoluten Negation des geopolitischen Rivalen leiten lässt.

Diese Negation a priori prädisponiert bereits eine ideologisch indizierte AntiHaltung zu allem, was eine Verständigung mit dem Gegner zwar möglich machen könnte, aber hier und heute so gut wie unmöglich macht. Es geht also primär um die Herausbildung einer Anti-Haltung zwecks Selbstlegitimation sowohl der eigenen geo- und sicherheitspolitischen Intentionen als auch der eigenen imaginären Realität. Denn die Anti-Haltung ist eine Denkweise, welche die Realität absolut negiert und derart zu meistern vortäuscht, als würde sie diese bejahen. Die Anti-Haltung verdichtet ein Ohnmachtsgefühl, das die Realität lediglich karikiert und verzerrt, aber nicht adaptiert.

Die EU-Europäer können den zweifelhaften Ruhm für sich beanspruchen, diese Anti-Haltung bis zur letzten Konsequenz zu entwickeln und zur Richtschnur der Russlandpolitik zu machen. Die Anti- Haltung, die starr allein auf ein verzerrtes Bild von Russland fixiert ist, und dieses Bild unabhängig von Raum und Zeit und innerrussischen, zum Teil anspruchsvollen und denkwürdigen Diskussionen, Debatten und Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit für die Realität hält, verfehlt unweigerlich die adäquate Beurteilung der russischen Außen- und Geopolitik. Dieses starre Fixiertsein führt die europäische bzw. westliche Russlandpolitik zu einem realitätsinadäquaten Denken und Handeln, auch wenn sie oberflächlich häufig als in sich schlüssig und widerspruchsfrei erscheinen mag.

Die Konsequenz einer solchen Anti-Haltung ist evident. Die Konfrontation spielt sich meistens dann allein auf der Metaebene ab, die sich der Realität entzieht. Denkbare Alternativen existieren unter solchen Denkvoraussetzungen überhaupt nicht und der Kampf gegen den vermeintlichen oder tatsächlichen Autoritarismus und/oder Totalitarismus wird selbst autoritär und totalitär. Alle Kontakte zu Russland werden toxisch und darum verwerflich, radikal negiert und wie zu Zeiten des „Kalten Krieges“ verteufelt. Aber gerade diese Verteuflung läuft letztlich auf eine absolute Negation und folgerichtig Anti-Haltung hinaus. Denn der „Teufel“ – wie Golo Mann einst anmerkte -, „und nur er kann es ex definitionem niemals recht machen; denn teuflisch ist, was immer er tut.“2 Und so wird Russland im Schlepptau dieser Verteufelung kriminalisiert, enthumanisiert und letztlich zum „absoluten Feind“ (Carl Schmitt) stilisiert.

Das führt aber zwangsläufig zur Reanimierung des alten Feindbildes und eines neuen „Eisernen Vorhangs“, einer Demarkationslinie zwischen dem „verteufelten“ Russland und dem „humanen“ Westen auf dem europäischen Kontinent. Das heißt aber auch, dass die geopolitischen Rivalen bestrebt sein werden, eine neue Machtbalance auszutarieren oder die alte Dysbalance3 aufrechtzuerhalten, indem sie entweder einen neuen macht- und sicherheitspolitischen Status quo herstellen oder einen alten wiederherstellen werden. Damit ist die Frage nach dem Modus Vivendi auf dem europäischen Kontinent erneut gestellt.

2. Der Westen und der Rest der Welt

Im Machtkampf gegen Russland geht es dem Westen und insbesondere den EU-Europäern nicht so sehr um ihre einzel- bzw. nationalstaatlich wohlverstandenen Interessen, als vielmehr um eine ideologisch bemäntelte geo- und sicherheitspolitische Machtstellung Europas in der Welt. Im Zeitalter der Ideologien haben Wohl und Interesse der „Nation“ aufgehört, eine maßgebende fixe Orientierungsgröße zu sein. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts haben die Ideologien zwar das Zeitliche gesegnet. Die westliche Axiologie wird aber nach außen ideologisiert und erhebt den Anspruch auf die universale Geltung. Befindet sich Russland seit gut dreißig Jahren in einem ideologischen Nirwana, so wird der westlichen Universalideologie ein „neues“ axiologisches Leben eingehaucht.

Die westliche Universalideologie hat sich von den eigen- und nationalstaatlichen Machtinteressen längst gelöst und sich zur übernationalen und supranationalen Größe mit Anspruch auf die geopolitische Weltdominanz entwickelt. Das Nationale wurde mit Supranationalen im innereuropäischen Verhältnis gleichgesetzt, was die westliche und insbesondere EU-europäische Außenpolitik radikal veränderte. Das Ziel ist heute nach innen den Westen zu einen und nach außen die zunehmende militärische und geoökonomische Schwächung der westlichen Hemisphäre mittels der universalideologischen Domestizierung der außerwestlichen Welt wettzumachen.

Wer aus dieser universalideologischen „Alternativlosigkeit“ auszubrechen sucht und sich stärker den eigenstaatlichen Machtinteressen zuwendet, gilt im innerwestlichen Machtraum als unsolidarisch und unzuverlässig und im außerwestlichen als „undemokratisch“ und „autoritär“ und wird mittels Denunziation, Diffamierung und -falls nötig – mittels Nötigung und Gewalt auf Linie gebracht. Das ist im Übrigen auch der Grund, warum es sich die Bundesregierung nicht leisten kann, von der Einheitsfront gegen „die russische Aggression“ abzuweichen, selbst wenn die Wirtschaftssanktionen gegen Russland für die deutsche Volkswirtschaft ruinöse Folgen haben (können).

Das ist aber auch der Preis, den Deutschland mit der Preisgabe seiner geld-, sicherheits- und außenpolitischen Souveränität bezahlt. Mit der Übertragung seiner Souveränität auf die supranationalen Institutionen der Nato und der EU hat es seinen Handlungsspielraum teils freiwillig, teils gezwungenermaßen eingeengt. Wäre es geo- und sicherheitspolitisch souverän, so hätte es beispielsweise nicht auf Nord Stream 2 verzichten wollen und jede Diskussion über eine mögliche Energiekrise hätte sich von selbst erledigt.

Die Sprengung dieses Souveränitätskorsetts würde unweigerlich die Infragestellung der supranationalen Institutionen bedeuten und zum Zerfall der EU führen. Darum wirkt die abstrakte Moral der Universalideologie einerseits als Vehikel des Zusammenhalts im innerwestlichen Verhältnis und andererseits als Bollwerk gegen die Außenwelt im Bewusstsein der eigenen „besseren“ Hypermoral und der „alternativlosen“ Rechts- und Verfassungsordnung.

Der Ukrainekrieg zeigt aber gerade in aller Deutlichkeit, dass der Westen mit der Missionierung seiner Universalideologie und seiner Moral Gefahr läuft, in der außerwestlichen Welt allein auf weiter Flur zu sein. Denn mit seinem aussichtslosen Versuch, Russland vom Rest der Welt zu isolieren, isolierte der Westen letztlich sich selbst, da die außerwestliche Welt nicht gewillt war und ist, in diesem geoökonomisch und geopolitisch inszenierten antirussischen Schauspiel mitzuspielen. Und sie tut alles, um sich vom Westen nicht vereinnahmen zu lassen.

Warum wehrt sich aber der Rest der Welt so beharrlich dagegen, sich in diesen Konflikt zwischen Russland und dem Westen hineinzuziehen? In einem jüngsten Beitrag für Le Figaro vom 12. Juli 2022 hat sich der bekannte französische Journalist und Schriftsteller Renaud Girard eingehend mit dieser Frage befasst. Der Ukrainekonflikt – schreibt Girard – sei jene politische Erschütterung geworden, welche den „globalen Westen“ gezwungen habe, nachdenklich zu werden. Die Europäer und US-Amerikaner stellen zu ihrer eigenen Überraschung fest, dass die westliche Moralpredigt über die Verhaltensweise in der modernen zivilisierten Welt die Mehrheit der Weltbevölkerung schlicht und einfach für unerträglich halte. Bedeute das etwa, dass die Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas Russland im Ukrainekonflikt ohne Wenn und Aber unterstützen? Mitnichten! Vielmehr nehmen sie im Ukrainekrieg, den sie eher für einen Familienstreit halten, eine neutrale Position ein. Und ganz sicher erachten diese Länder es als unerträglich, wenn der Westen der ganzen Welt Moral predigt. Sie sehen in der westlichen Welt einen „globalen Scheinheiligen“, welcher der unbefangenen Weltbevölkerung zurufe: „Tue so, wie ich dir sage, und nicht so, wie ich selbst tue.“

Es wäre allerdings zu kurz gesprungen, hätte man die Neutralität der außerwestlichen Welt im Ukrainekrieg allein als Abwehr gegen die westliche Doppelmoral verstanden wissen wollen. Vielmehr gibt es eine Reihe von historischen, geoökonomischen und geopolitischen Ursachen, welche die Haltung zum Ukrainekonflikt seitens des Restes der Welt präjudiziert.4

Längst ist es ja zur Selbstverständlichkeit geworden, mit zweierlei Maß zu messen. Selbst ein gelegentlich anzutreffender Pragmatismus in der Russlandpolitik wird meistens mit Skepsis und Unverständnis begegnet. Aber schon Adenauer lehrte uns, dass das, was „staatsrechtlich und völkerrechtlich unbestreitbar“ sei, lediglich „eine weitgehend akademische Frage“ sei. „In der praktischen Politik ist die Kraft der Tatsachen entscheidend.“5 Und im Zeitalter der Universalideologie haben wir Georg Jellineks Lehre von „der normativen Kraft des Faktischen“ längst ad acta gelegt.

3. Zur Reanimierung des alten Feindbildes

In den russischen Talk Shows wird Russland gelegentlich als „Avantgarde“ im Kampf gegen die US-Welthegemonie charakterisiert und Putin behauptete selbstbewusst in einer Rede vor den führenden Repräsentanten der Staatsduma am 7. Juli 2022: Der Ukrainekrieg sei „der Anfang vom Ende der US-amerikanischen Weltordnung“ und bedeute „der Übergang vom US-zentrierten liberalen Globalismus zur multipolaren Weltordnung.“ Die westlichen Medien verbreiten demgegenüber genau das gegenteilige Bild in der breiten Öffentlichkeit und erwecken den Eindruck, dass man noch etwas Geduld aufbringen sollte, bis Russland ökonomisch „ruiniert“ werde und die ukrainische Armee mit Hilfe der westlichen Waffenlieferungen den Sieg über „den russischen Aggressor“ erringe.

Dieses in der Öffentlichkeit verbreitete Siegesbewusstsein wird allerdings nicht nur von der „russischen Propaganda“, sondern auch von manchen US-amerikanischen und europäischen Experten in Zweifel gezogen.

In diesem Sinne äußerte sich beispielsweise der US-amerikanische Politikwissenschaftler Barry R. Posen jüngst in Foreign Affairs am 8. Juli 2022 in seinem Artikel „Ukraine´s Implausible Theories of Victory. The Fantasy of Russian Defeat and the Casefor Diplomacy“. Er vertrat die Auffassung, dass die Rhetorik der ukrainischen Führung, dass der Sieg nicht mehr in weiter Ferne sei, nichts weiter als eine Fantasie sei („A possible counterargument is that the West could supply Ukraine with such superior technology that it could best the Russians, helping Kyiv defeat its enemy through either attrition or mobile warfare. But this theory is also fanciful“).

Ungeachtet dessen, ob Russland ökonomisch „ruiniert“ werde und wer im Ukrainekrieg gewinnt bzw. verliert, stellt sich die grundsätzliche Frage nach einer europäischen Friedens- und Sicherheitsordnung nach der Beendigung des Ukrainekrieges. Mag die Frage angesichts der noch laufenden Kriegshandlungen etwas verfrüht erscheinen, gekoppelt an die Frage nach der westlichen Russlandpolitik von morgen ist sie schon heute aktueller denn je.

Wie sieht die momentane geopolitische Lage aus? Die Weltordnung, in der wir uns befinden, ist eine real existierende Unordnung geworden, von jenen am Leben erhalten, die entweder nicht wissen, was sie tun, oder die geopolitischen Spannungen vielerorts bewusst in Kauf nehmen oder diese gar gezielt herbeiführen. Im geradezu obsessiven Drang, Russland doch noch niederzuringen und die Ukraine zum Sieg zu verhelfen, setzt das politische und militärische Establishment diesseits und jenseits des Atlantiks allein auf eine weitere Eskalation und Zuspitzung der Konfrontation mit Russland.

Man hört in der letzten Zeit Stimmen, die in der augenblicklichen Situation eine einmalige Chance, ja die günstige Gelegenheit erblicken, „Putins Russland“ zu schwächen und ihm eine „strategische Niederlage“ zuzufügen. Sie wissen nur nicht, worauf sie sich da einlassen. Ihnen möchte man in Anlehnung an ein bekanntes Bonmot zurufen: Russland sei niemals so schwach, wie es scheint, und niemals so stark, wie es droht. Und in diesem Sinne äußerte sich auch Putin in seiner bereits oben zitierten Rede, als er selbstbewusst anmerkte: „Der Westen wünscht uns eine strategische Niederlage zuzufügen. Nun, was kann ich dazu sagen? Versuchen Sie mal!“

Vergessen sind offenbar die 1990er-Jahre, in denen Russland sich in einer viel schlimmeren Lage wie heute befand, ohne dass es dem Westen gelungen ist, es zu zerschlagen. Blind sind deswegen auch diejenigen, die eine eingehende nüchterne und ideologiefreie Analyse sowohl der Hintergründe des Konflikts als auch der seit dem Ende des Ost-West-Konflikts ausgebildeten Strukturen der europäischen Sicherheits- und Friedensordnung vermissen lassen. Sonst würden sie sich nicht – wie die Verfasser der Studie „Die militärische Lage in der Ukraine seit Beginn des russischen Überfalls und die Aussichten für eine Beendigung des Krieges“ (ISPK, 12. Juli 2022) – zu dem Urteil hinreißen lassen, dass das „Grundproblem mit Russland … die Natur des Regimes (ist), welches sich in einen faschistoiden Größenwahn hineingesteigert hat und offenbar unbeirrt an der Umsetzung seiner imperialen Pläne arbeitet: der Revision des Endes des Kalten Krieges zu russischen Bedingungen. Von daher wird es unumgänglich sein, die Aufhebung der Sanktionen erst nach einem Regimewechsel in Moskau ins Auge zu fassen“ (S. 17).

Offenbar zählen die Verfasser der Studie „Putins Russland“ seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zu den unzivilisierten „Rogue States“ hinzu, sodass Putins „faschistoides“ Regime – wie sie es nennen – nunmehr als jenseits der „Zivilisationsgrenze“ angesehen wird und mit allen Mitteln ungehemmter ökonomischer, medialer und hypermoralisierender Gewalt bekämpft, delegitimiert und gestürzt werden sollte. Wo waren denn die Herrschaften in den vergangenen zweiundzwanzig Jahren (1999-2021), als der Westen selbst für sich in Anspruch nahm, nach Belieben rechtsfreie Räume zu schaffen, in denen er seine Macht mit ungebremster und ungehemmter militärischer Gewalt jahrzehntelang zu praktizieren und durchzusetzen wusste?

Lässt der Westen für sich gelten, was er seinem geopolitischen Rivalen vehement abspricht? Russland wird vom Westen das abgesprochen, was dieser für sich wie selbstverständlich in Anspruch nahm. Quod licet Iovi, non licet bovi – Was der „Jupiter darf, darf der Ochse noch lange nicht“, soll heißen: Was die „westliche Zivilisation“ jenseits ihrer „Zivilisationsgrenze“ mit einer exzessiven ungehemmten Gewaltanwendung in den vergangenen zwanzig Jahren vorgemacht hat, darf Putins „faschistoider Größenwahn“ noch lange nicht und muss darum mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln geächtet, verurteilt und sein „Regime“ zum Sturz gebracht werden. Das ist gelinde gesagt geopolitischer Rassismus.

Haben die Verfasser der Studie in ihrer hypermoralischen Empörung die sog. „humanitären Interventionen“ des Westens schon vergessen, mit denen der US-Hegemon mit seinen NATO-Bündnisgenossen zahlreiche Länder überfallen, gegen sie völkerrechtswidrige Angriffskriege geführt, sie erbarmungslos in Schutt und Asche gelegt und Hunderttausende Opfer verursacht hat?

Allein im Irak wird die Opferzahl auf „etwa 2,4 Millionen Menschen“6 geschätzt. In Afghanistan „liegt die Zahl der seit 2001 auf beiden Seiten getöteten Afghanen bei etwa 875.000, minimal 640.000 und maximal 1,4 Millionen.“7 In Kombination mit Pakistan schätzt Nicolas J. S. Davies „bis Frühjahr 2018 auf etwa 1,2 Millionen getöteter Afghanen und Pakistanis durch die US-Invasion in Afghanistan seit 2001“ (ebd., 142) usw.

Das größte Problem solcher Analysen wie der vorgelegten ISPK-Studie ist ihr Quellenmaterial, das beinahe zu 100% auf eine kritiklose Adaptation überwiegend der US-amerikanischen und ukrainischen Quellen bei gleichzeitiger Ausblendung der russischen Quellen basiert, die a priori als Propaganda abqualifiziert und folgerichtig als „unglaubwürdig“ abgelehnt werden. Damit werden von vornherein die Einseitigkeit und Voreingenommenheit der Analyse vorprogrammiert, von der grundsätzlichen Anti- Haltung bzw. ideologischen Verdammung von „Putins Russland“ ganz zu schweigen.

Es sei auch daran erinnert, dass das Urgestein der amerikanischen Russlandforschung George F. Kennan bereits vor einem Vierteljahrhundert die Clinton-Administration eindringlich vor der NATO-Expansion gen Osten warnte: „Eine Ausweitung der NATO wäre der verhängnisvollste Fehler amerikanischer Politik nach dem Ende des Kalten Krieges.“8

In einem dem bekannten New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman im Frühjahr 1998 gegebenen Interview fügte er hinzu: „Ich denke, dass die NATO-Osterweiterung der Beginn eines neuen Kalten Krieges ist und dass die Russen darauf allmählich feindselig reagieren und ihre Politik in verschiedenen Fragen verändern werden. Ich glaube, das sei ein tragischer Fehler. Für eine solche Vorgehensweise bestand gar keine Notwendigkeit. Keiner hat jemanden bedroht.“9 Da war noch keine Spur von Putins „faschistoidem Größenwahn“.

Zu Beginn der ISPK-Studie wird die fragwürdige These aufgestellt: „Der Angriffskrieg Russlands war viele Jahre systematisch geplant und vorbereitet worden. Der Krieg ist Teil einer seit mehr als einem Jahrzehnt andauernden Re-Militarisierung und Re-Imperialisierung der russischen Außenpolitik. Die Politik Russlands ist spätestens seit 2014 auf eine strategische Konfrontation mit dem Westen ausgerichtet. Die russische Strategie beruht auf der Wiederbelebung großrussischer, teilweise völkischer und faschistischer Narrative und zielt auf die militärische Unterwerfung von Nachbarstaaten und die Zerstörung westlicher Institutionen (NATO, EU) ab.“

Und die Ukraine? Hat sie sich nicht auf einen Krieg zur Wiedereroberung von Donbass und Lugansk trotz der Minsker Verträge jahrelang mit tatkräftiger Unterstützung der USA und der Nato vorbereitet? Dass der Nato-Generalsekretär Stoltenberg am Nato-Gipfel in Madrid öffentlich zugab, dass nämlich der Westen die ukrainische Armee bereits seit 2014 auf den Krieg vorbereitete, wurde in der Studie ignoriert.

Dass der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba am 14. Juli 2022 zugab, dass die Ukraine sich bereits seit September 2021 auf den Krieg zur Befreiung von Donbass und Lugansk vorbereitete, widerlegt die Behauptung der Studie: „Die russische Strategie beruht auf der Wiederbelebung großrussischer, teilweise völkischer und faschistischer Narrative und zielt auf die militärische Unterwerfung von Nachbarstaaten.“ Der Vorwurf zeigt nur, dass den Verfassern der Studie nicht so sehr um eine wissenschaftliche Analyse als vielmehr um eine Kriegspropaganda geht.

Zum einen behauptet die russische Führung, dass sie präventiv gehandelt habe und der ukrainischen Armee bei deren bevorstehendem Angriff auf Donbass und Lugansk lediglich zuvorgekommen sei. Man muss dem nicht glauben. Man darf diese Behauptung aber nicht einfach vom Tisch wischen und ganz ignorieren.

Zum anderen vermengen die Autoren auf unzulässiger Weise die deutsche Vergangenheit mit der russischen Gegenwart. Offenbar in völliger Unkenntnis des russischen außen- und geopolitischen Denkens denunzieren sie Russland als „völkisch“ und „faschistisch“. Auch dieser Vorwurf zeigt nur, wie wenig die Autoren an einer nüchternen Analyse der russischen Innen- und Außenpolitik interessiert waren.

Russland war und ist kein Nationalstaat, sondern ein übernationales Staatsgebilde – ein Vielvölkerstaat -, sodass es per definitionem weder „völkisch“ noch „faschistisch“ sein kann. Eine „völkische“ und „faschistische“ Ideologie jeder Couleur setzt aber – verfassungs- und zeitgeschichtlich betrachtet – zwingend ein Nationalstaat und eine Rassentheorie voraus. Gerade in der Ukraine beobachten wir seit 2014 einen brachialen und exzessiven Ethnonationalismus, was die Studie ebenfalls ignoriert.

Auch der Verweis auf „Putins Äußerung von 2005, wonach der Zusammenbruch der Sowjetunion eine große Jahrhundertkatastrophe war“, die laut der Studie der Ukraine angeblich „nur zwei Optionen (ließ): sich entweder dem Willen Moskaus zu beugen (wie Belarus) oder den Anschluss an den Westen zu suchen“, bestätigt nur den Eindruck, dass die vorgelegte Studie wissenschaftlichen Anforderungen nicht gerecht wird.

Sie suggeriert, dass „Putins Russland“ eine restaurative bzw. revisionistische Politik betreibe und die Wiederherstellung des Sowjetreiches verfolge. Zum einen unterschlagen die Autoren eine andere, von Putin bereits 2010 ebenfalls vertretene Auffassung: „Wer den Untergang der UdSSR nicht bedauert, hat kein Herz. Wer aber die UdSSR wiederherstellen will, hat keinen Verstand.“ Zum anderen würde sich Russland volkswirtschaftlich und geoökonomisch übernehmen, würde es das imperiale Abenteuer anstreben wollen. Die Wiederherstellung des Imperiums in den Grenzen des untergegangenen Sowjetreiches wäre zum dritten allein schon deswegen unmöglich, weil im postsowjetischen Raum der Nationalismus jeder Couleur gedeiht und floriert. Nachdem der Geist des Nationalismus aus der postsowjetischen „Büchse der Pandora“ entwichen war, ist es heute praktisch unmöglich, diesen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen, es sei denn mit brutalster Gewalt.

Auch die These der Studie: „Spätestens mit dem durch die Massen erzwungenen Rücktritt des Putin ergebenen Präsidenten Janukowitsch im Februar 2014 war die Zerstörung der Ukraine das Ziel Putins“ gehört nicht nur dem Bereich der Verschwörungstheorien an, sondern verkennt auch völlig die Natur und den Charakter des Ukrainekrieges. Nicht die Zerstörung der Ukraine ist „das Ziel Putins“, sondern die Beseitigung der ukrainischen Machtelite, die nach russischer Lesart mit Hilfe der USA 2014 an die Macht geputscht wurde. Diese russische Lesart wird neuerdings indirekt vom ehem. Nationalen Sicherheitsberater John R. Bolton bestätigt, der in einem CNN-Interview am 14. Juli 2022 die US-amerikanische Unterstützung bei Putschversuchen in anderen Ländern gestand. „Für Coup d‘etat braucht es viel Arbeit“, sagte Bolton wörtlich.

Und was den Ukrainekrieg angeht, so ist dieser neben einem zwischenstaatlichen und geopolitischen Konflikt in erster Linie ein Bürgerkrieg zwischen zwei ostslawischen „Brüdervölkern“ innerhalb der völkerrechtlich anerkannten Grenzen der Ukraine. Hier kämpfen Russen gegen Russen, Ukrainer gegen Ukrainer. Und selbst die Sprache des Krieges ist ein und dieselbe. Hier findet mit anderen Worten ein „Brüdermord“ aus ideologischen, axiologischen und kulturellen Gründen statt.

1. Russland führt zum einen erbitterten ideologischen Krieg gegen den ukrainischen Ethnonationalismus, wohingegen die seit 2014 in der Ukraine an die Macht gekommene, angeblich „westlich“ orientierte, aber ethnonationalistisch geprägte ukrainische Machtelite Front gegen alles Russische macht.

2. Es ist zum zweiten ein Kulturkampf um eine historische und sprachliche Identität des gespaltenen Landes, die mittlerweile in einen regelrechten Glaubenskrieg ausartete.10

3. Es geht schließlich zum dritten um eine axiologische bzw. verfassungspolitische Orientierung des Landes. Hier prallen das übernationale Prinzip der russischen Staatlichkeit und der ukrainische Ethnonationalismus als ideologisches Fundament der „neuen“ Ukraine nach 2014 unversöhnlich und knallhart aufeinander. Jedwede Versöhnung ist von vornherein ausgeschlossen.

Dass das sog. „Ultimatum Russlands“ vom Dezember 2021 angeblich „eine konditionierte Kriegserklärung an die NATO“ sein sollte und gar „ein klares Signal (war), dass eine größere Militäroperation bevorstand“, sei in den Bereich der Mythenbildung verwiesen. Dass Russlands Invasion bevorstand, damit haben die Wenigsten gerechnet. Bereits vier Monate vor dem Kriegsausbruch in der Ukraine stellte ich in meiner Ukraineanalyse am 18. Oktober 2021 resigniert fest: „Es ist keine Lösung in Sicht, es sei denn, es kommt entweder zum Krieg oder zur Auflösung der Ukraine, oder zu beidem.“11

Alles im Allen zeigt die Analyse der ISPK-Studie geradezu paradigmatisch, wie weit die EU-Europäer von einer zeitgemäßen Russlandpolitik entfernt sind und wie sehr sie immer noch im Geiste des „Kalten Krieges“ denken und handeln. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Russlandpolitik als perspektivlos. Sie führt im besten Fall zu einem Zustand, in dem es weder Krieg noch Frieden gibt, und im schlimmsten Fall zu einem großen europäischen Konflikt. All das verspricht für die künftige Sicherheits- und Friedensordnung Europas nichts Gutes.

Anmerkungen

1. Urban, G., Gespräche mit Zeitgenossen. Acht Dispute über Geschichte und Politik. Weinheim u. Basel 1982, 265.
2. Mann, G., Was der Westen kann, in: Neue Rundschau 75 (1965), 592-610.
3. Dazu Silnizki, M., Posthegemoniale Dysbalance. Zwischen Hegemonie und Gleichgewicht. 31. Mai 2022, www.ontopraxiologie.de.
4. Näheres dazu Silnizki, M., Der Westen – in einer strategischen Sackgasse. Zwischen Selbstüberlistung und Selbstsanktionierung. 12. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Interview Adenauer-Friedländer im NWDR am 22. Februar 1954; zitiert nach Erdmenger, K., Das folgenschwere Missverständnis. Freiburg 1967, 111 FN 52.
6. Davies, Nicolas J. S., Die Blutspur der US-geführten Kriege seit 9/11: Afghanistan, Jemen, Libyen, Irak, Pakistan, Somalia, Syrien, in: Mies, U. (Hrsg.), Der tiefe Staat schlägt zu. Wie die westliche Welt Krisen erzeugt und Kriege vorbereitet. 2. Aufl. Wien 2019, 131-152 (132).
7. Davies (wie Anm. 6), 141.
8. Kennan, G. F., „A Fateful Error“, in: The New York Times, 5.2.1997, S. A23; zitiert nach Greiner, B., Made in Washington. Was die USA seit 1945 in der Welt angerichtet haben. München 2021, 195, 171.
9. Zitiert nach Александр Крамаренко, Расширение НАТО: предистория >рокового решения<. Что делать? 25. Januar 2018.
10. Näheres dazu Silnizki, M., Ist die Ukraine noch zu retten? Zwischen Bürgerkrieg, Kulturkampf und Geopolitik. 21. Juni, www.ontopraxiologie.de.
11. Silnizki, M., Kampf um die Ukraine. Im Würgegriff von Geopolitik und Tradition. 18. Oktober 2021, www.ontopraxiologie.de.

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