Verlag OntoPrax Berlin

Putins Kontinentalmachtstrategie

Zur Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik

Übersicht

1. Die Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik
2. Außenpolitik als Kunst der (Selbst)Inszenierung?
3. Kontinentalmacht- versus Weltmachtstrategie

Anmerkungen

„Es ist ja völlig richtig, dass ich zutiefst pessimistisch bin in der
Beurteilung dessen, was in den Vereinigten Staaten und
überhaupt in der westlichen Zivilisation vor sich
geht, der ich ja angehöre.“
(George F. Kennan im Gespräch mit George Urban 1982)

1. Die Ukrainepolitik als Anti-Russlandpolitik

Die westliche Ukrainepolitik ist seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine in erster Linie Anti-Russlandpolitik. Und in diesem Kontext ist die Ukraine Objekt und nicht Subjekt des Geschehens. Als Anti-Russlandpolitik ist die Ukrainepolitik von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil sie der Intention und Zielsetzung nach taktisch dysfunktional und strategisch desorientiert ist. Bedeutet die westliche Taktik, Russland ökonomisch und militärisch zu schwächen, so ist das erklärte strategische Ziel, Russland eine „strategische Niederlage“ zuzufügen, damit es niemals mehr „wagt“, die Nachbarstaaten anzugreifen.

Diese doppelte Zielsetzung der westlichen Anti-Russlandpolitik kann nicht aufgehen, weil die Ukrainepolitik – als Anti-Russlandpolitik definiert – taktisch nicht funktionsfähig und strategisch nicht tragfähig ist. Das Ergebnis wird vielmehr genau das Gegenteil dessen sein, was der Westen ursprünglich beabsichtigte: Die Ukraine wird ökonomisch geschwächt und militärisch zerstört. Denn das Bestreben, Russland ökonomisch und militärisch zu schwächen, bedeutet automatisch einen ökonomischen und militärischen Ruin der Ukraine selbst, sodass sich diese Vorgehensweise dysfunktional zur Intention des Westens verhält, „Russland ruinieren“ zu wollen, wohingegen Russland selbst aus dieser Konfrontation im Zweifel gestärkt herauskommen kann.

Denn Russland kann – wie der Kriegsverlauf bis jetzt zeigt – weder militärisch geschwächt noch ökonomisch ruiniert werden. Der in der westlichen Öffentlichkeit weit verbreitete Glaube an den baldigen Sieg der Ukraine über Russland wird nicht weiter als ein frommer Wunsch bleiben.

Wie kann die Ukraine, die keine eigene Rüstungsindustrie (mehr) hat, überhaupt siegen, wenn die westlichen Waffenlieferungen halbherzig erfolgen, die Nato sich aus gutem Grund ausdrücklich weigert, im Ukrainekrieg direkt einzumischen, die ukrainische Wirtschaft am Boden liegt usw. usf.? Auch das anfängliche Ziel der westlichen Geostrategen, Russland mittels des ökonomischen Blitzkrieges zu Beendigung der Kriegshandlungen zu bewegen, hat sich in Wohlgefallen aufgelöst. Was für eine katastrophale Fehleinschätzung der ökonomischen und militärischen Potenz Russlands! Es bewahrheitet sich erneut das bekannte Bonmot: Russland ist niemals so schwach, wie es scheint, und niemals so stark, wie es droht.

Der Ukrainekrieg tobt bereits seit fünf Monaten und der geglaubte Erfolg des Westens im Wirtschaftskrieg gegen Russland bleibt bis auf Weiteres aus, sodass sich der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell dazu veranlasst sah, die europäische Öffentlichkeit zu beruhigen und zur sog. „strategischen Geduld“ aufzufordern. Am 17. Juli 2022 behauptete er wortreich: „Die von der EU getroffenen Sanktionen treffen bereits jetzt Vladimir Putin … und deren Wirkung auf die russische Wirtschaft wird nur noch stärker. Europa muss die strategische Geduld aufbringen.“

Strategische Geduld!? Ist diese Äußerung Borrells eine Beschwichtigung, ein Eingeständnis des Scheiterns der Wirtschaftssanktionen, eine inszenierte Gelassenheit, eine selbstgefällige Prahlerei oder einfach ein bloßes Gerede zur Verschleierung der eigenen gescheiterten Vorgehensweise, welche die Kriegshandlugen in der Ukraine eher angefeuert als ausgebremst hat? Die europäische Öffentlichkeit ist zunehmend irritiert, verärgert und verlangt immer lauter nach der Teilhabe an Entscheidungsprozessen betreffend weiterer Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine, wie zahlreiche Aufrufe zur friedlichen Lösung des Konflikts in Deutschland und in den anderen EU-Ländern zeigen.

So schrieb unlängst der einflussreiche französische Investmentbanker Philippe Villin in seinem Artikel „Les sanctions contre la Russie, quoi qu’il nous en coûte?“ (Was kosten uns die Sanktionen gegen Russland?) für Figaro Vox am 18. Juli 2022 empört: „Der Gegenstand meines Artikels besteht nicht darin zu klären, ob die grenz- und endlose Unterstützung von Herrn Selenskyj so, wie es unsere Politiker und Beamten der EU-Kommission – die sog. >Eurokraten< – tun, notwendig ist. Meine Aufgabe ist vielmehr zu klären, warum sich eine erstaunliche Tatsache ereignete, dass nämlich die Entscheidung, Selenskyj zu unterstützen, ohne irgendwelche demokratische Debatten erfolgte. Das Schlimmste ist aber, dass die Politiker der EU-Staaten nicht einmal nötig hatten, nach unserer Meinung über die militärische Eskalation und die Folgen der Sanktionen für unsere Wirtschaft zu fragen. Die Inflation wächst wegen der antirussischen Sanktionen, die zur Preissteigerung bei Energie und Rohstoffen führen, was wiederum die Zinserhöhung mit sich bringt und den Marasmus nur noch verschlimmbessert … Ich hoffe nur, dass der schockartige Wohlstandsverlust in der EU politische Debatten auslösen wird, bei welchen wir – Bürger und Unternehmer – unsere Politiker und unsere verblendeten >Eurokraten< zu Rede stellen werden. Denn sie sind diejenigen, die uns mit ihren dreisten Lügen ins Verderben stürzen.“

Und selbst so eine konservative Zeitung wie „Die Welt“ äußert ihre Zweifel über die westliche Vorgehensweise im Ukrainekonflikt. So schreibt der Chefkommentator Jacques Schuster in seinem Artikel „Sanktionen, Diplomatie, Kriegsverlauf – Die drei Trugschlüsse des Westens“ am 22. Juli 2022: „Seriöse Außenpolitik bedeutet, den Realitäten ins Auge zu sehen: Die Ukraine wird die zehnfache Übermacht der Russen nicht brechen. Putin ist international keineswegs isoliert. Und Wirtschaftssanktionen stoppen ihn nicht.“ Ist also die EU-Außenpolitik nicht (mehr) „seriös“?

Immer mehr und immer öfter finden also Proteste in der europäischen Öffentlichkeit gegen die verfehlte westliche Ukraine- bzw. Anti-Russlandpolitik statt. Und so werden die Eurokraten zunehmend nervös und ratlos. Sie laufen mit dem Kopf gegen die Wand, simulieren mit ihren zahllosen EU-Gipfel Handlungsfähigkeit, inszenieren sich als „Retter“ der ukrainischen Souveränität und Demokratie, warnen vor „russischer Gefahr“ und verstricken sich immer mehr und immer tiefer in den Marasmus des Ukrainekonflikts, ohne zu wissen, wie sie ökonomisch, finanziell und militärisch unbeschadet herauskommen.

Denn eins wird immer deutlicher: Je länger der Krieg andauert, umso kostspieliger wird er für die EU und umso gefährlicher wird jede weitere Eskalation des Konflikts für den europäischen Frieden und umso dringender wird sich die Frage stellen: Können die EU-Europäer ihren Frieden bewahren und ihren Wohlstand aufrechterhalten? Führt der Wohlstandverlust dann nicht automatisch zur Gefährdung des sozialen und politischen Friedens in Europa? Wissen die Eurokraten mit ihrer Anti-Russlandpolitik überhaupt, was sie tun und wem dieses außenpolitische Abenteuer in die Hände spielt? Man wünscht sich statt Anti-Russlandpolitik etwas mehr Realpolitik als eine immer wieder zur Schau gestellte Selbstinszenierung und nie enden wollende gefährliche Eskalationspolitik.

2. Außenpolitik als Kunst der (Selbst)Inszenierung?

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind längst zu einem gigantischen, geopolitisch inszenierten Theaterstück verkommen. „Totus mundus agit histrionem“: Alle Welt schauspielert, verkündete einst die Inschrift über dem Eingang des Globe Theaters in London, der Bühne Shakespeares. Was in der Welt des Barocks, in welcher der schöne Schein zum Prinzip der Kunst erhoben wurde, die Klage der Moralisten war, das war der Stolz der Komödianten, kommentiert Richard Alewyn die Inschrift1.

Und heute? Heute sind Moralisten und Komödianten im geopolitischen Schaukampf Zwillinge geworden. Sie praktizieren gemeinsam die Kunst der Tarnung und Täuschung, Inszenierung und Selbstinszenierung, der gegenseitigen Verachtung und Geringschätzung. Willkommen im Klub der Missvergnügten und Missgelaunten!

Auch die Ukrainepolitik könnte man in diesem Zusammenhang als die Kunst der Tarnung und Täuschung, der Inszenierung und Selbstinszenierung charakterisieren. Inszenierung ist eine Vortäuschung der Realität, die es so nicht gibt bzw. nicht realisierbar ist. Inszenierung beginnt dann, wenn sich herausstellt, dass die vorgetäuschte Realität nicht nur unerreichbar ist, sondern auch unerreicht werden kann. Und so ist auch die oben zitierte Äußerung von Josep Borrell als eine Inszenierung zu deuten. Sie ist zugleich auch verräterisch. Denn sie deutet zumindest auf dreierlei hin: (1) Die Sanktionen könnten im Sand verlaufen; (2) Die Sanktionsmöglichkeiten der EU seien anscheinend weitgehend erschöpft; (3) Das verunsicherte, weil getäuschte und enttäuschte Publikum soll womöglich hingehalten werden, von den „erfolgversprechenden“ Sanktionen gefälligst weiterhin zu träumen, um deren „vielversprechende“ mittel- und langfristige Wirkung abzuwarten. „Auf lange Sicht“ – spottete einst der berühmte britische Weltökonom John Maynard Keynes – „sind wir alle tot.“

Eine solche EU-Außenpolitik ist die Kunst der Selbsttäuschung und Selbstinszenierung, begleitet von durch die Massenmedien transformierten Kriegsbildern, deren einseitige Interpretationen alle Ehre macht und deren Zuordnung zur Realität allein mittels nicht überprüfbaren und darum jederzeit realitätsverstellenden „Fakten“ erfolgt. Sie wird zudem von der absoluten Negation geprägten Anti-Haltung als „Richtschnur der Russlandpolitik“2 untermauert. Wo sich die real existierende Welt in ein Bild verwandelt und von der Anti-Haltung geprägt wird und die zugespielten Bilder mit „der“ Realität gleichgesetzt werden, wird die Inszenierung dieser bildhaften „Realität“ zum Maß der EU-Außen- und Geopolitik.

Sobald diese bildgesteuerte „Realität“ die Russlandpolitik domestiziert und Geltungskraft erlangt, kann sich das Mainstream-Denken der innerwestlichen Kommunikation bemächtigen, um die öffentliche Meinung in die gewünschte Richtung zu steuern und zu beeinflussen. Und genau in diesem Kontext funktioniert die Anti- Russlandpolitik nach dem Motto: Was inszeniert wird, gilt und was gilt, wird inszeniert.

Hat die Außenpolitik in einem Zeitalter, in dem die mediale Inszenierung Sinn und Zweck ausmacht, überhaupt eine Bedeutung? Ist die Inszenierung nicht schon längst zum Selbstzweck der Außenpolitik geworden? Jedenfalls vertritt der russische Außenminister Sergej Lavrov diese Auffassung. So schrieb er kürzlich in einem Beitrag unter dem Titel „Об исценировках как методе политики Запада“ (Über Inszenierungen als Methode der westlichen Politik) für die Zeitung Izvestija am 18. Juli 2022: „Wenn man die gegenwärtigen Ereignisse aus einer historischen Perspektive betrachtet, so erscheint die Ukrainekrise heute wie ein >großes Spiel< nach dem Szenario eines Zbigniew Brzezinskis. Das Gerede über die guten Beziehungen, die Bereitschaft des Westens, das Recht und die Interessen der Russen zu beachten, die nach dem Zerfall der UdSSR auf den Territorien der unabhängigen Ukraine und der anderen postsowjetischen Länder, haben sich nichts weiter als Inszenierung erwiesen. Bereits seit Anfang der 2000er-Jahre haben Washington und die EU von Kiew gefordert, sich für den Westen oder Russland zu entscheiden.“3

Vor diesem Hintergrund ist das Misstrauen des Russen gegenüber der westlichen Außenpolitik mehr als verständlich, was im Übrigen auf Gegenseitigkeit beruht. Und dieses gegenseitige Misstrauen macht die Außenpolitik so unberechenbar, so gefährlich und darum eskalationsanfällig. Die Wahrscheinlichkeit, den Gegner zu unterschätzen und ihn nicht ernst zu nehmen bzw. die Möglichkeit vom Gegner missverstanden zu werden, birgt vor diesem Hintergrund die Gefahr, einen von keinem gewollten, unbeabsichtigten und sinnlosen Konflikt zu provozieren.

3. Kontinentalmacht- versus Weltmachtstrategie

Der Westen ist ungeachtet seiner Selbstbeschreibung und Selbstwahrnehmung weder die Welt noch die internationale Gemeinschaft. Bereits 2004 zeigte sich Ingeborg Maus irritiert darüber, dass die „westliche Hegemonie … den Namen der internationalen Gemeinschaft usurpiert“4 hat. Zwar repräsentiert der Westen immer noch die sog. „goldene Milliarde“. Das macht aber nur 12,5% der Weltbevölkerung aus. Der Rest der Welt ist heute dessen ungeachtet selbstbewusster und unabhängiger geworden. Er möchte zwar nicht gegen den Westen opponieren, wohl aber auch nicht unbedingt unter dessen Vorherrschaft existieren. Nach dem Motto: Ohne den Westen, aber nicht gegen den Westen, geht der Rest der Welt seine eigenen Wege, ohne darauf zu achten, was der Westen zu sagen und zu denken hat. Aber genau das macht den westlichen Machteliten zu schaffen.

Denn die USA und die EU drohen in Asien, im Nahen Osten, in Lateinamerika und in Afrika immer mehr an Einfluss zu verlieren. In diesem Sinne äußerte sich unlängst der ehem. britische Premierminister Tony Blair in einem Vortrag vom 16. Juli 2022 am Institute for Global Change: „Die größten geopolitischen Veränderungen kommen in diesem Jahrhundert aus China und nicht aus Russland. Wir nähern uns dem Ende der politischen und ökonomischen Vorherrschaft des Westens. Die Welt wird mindestens bipolar und möglicherweise sogar multipolar sein. Zum ersten Mal in der Neueren Geschichte kann der Osten mit dem Westen gleichziehen. China ist bereits heute die zweite Supermacht und wird nicht isoliert bleiben. Es wird Verbündete haben. Russland ist heute schon ein Verbündeter, möglicherweise auch Iran.“

Diese geopolitischen und geoökonomischen Machtverschiebungen im globalen Raum verstehen bei Weitem nicht alle im Westen. Es geht dabei gar nicht um die Wiederkehr einer „bipolaren Weltordnung“ in neuem Gewand, wie der deutsche Ex-Botschafter in den USA und Großbritannien Peter Wittig unlängst mutmaßte. Viele Länder des „globalen Südens“ sträuben sich seiner Meinung nach „gegen eine bipolare Weltordnung – unter ihnen Schwergewichte wie Indien, Brasilien, Mexiko, Südafrika oder die Golfstaaten.“5

Das ist aber ein westliches Missverständnis. Diese Länder denken im Gegensatz zum westlichen, vom „Kalten Krieg“ immer noch geprägten ideologischen Denken gar nicht in Blockbildungskategorien, sondern vielmehr in den Kategorien des Machtgleichgewichts zwischen den Groß- und Mittelmächten der Staatenwelt, die gleichberechtigt und souverän mit-, gegen- und nebeneinander existieren und ihre gegenseitigen Interessen auszutarieren suchen. Das ist ein völlig anderer außenpolitischer Denkansatz, der mit dem Blockdenken nichts zu tun hat. Der Westen soll aufhören, seine eigenen Weltordnungsvorstellungen in die der anderen historisch gewachsenen politischen Kulturen hineinzuprojizieren. Auch Russland hat heute diesem Blockdenken abgeschworen.

Und genau hier liegt der grundsätzliche geopolitische Dissens zwischen Russland und dem Westen, folgt man der Tradition der russischen Außenpolitik und nicht der sowjetischen Periode der russischen Geschichte nach Stalins Tod: „Zwischen Russland und dem Westen kann es unmöglich eine Allianz auf Grundlage von Interessen oder Prinzipien geben. Wir Russen müssen immer daran denken, dass die Prinzipien, auf denen Russland und Europa gegründet sind, derart gegensätzlich und unversöhnlich sind, dass das Leben des einen nur auf Kosten des Todes des anderen möglich ist. Die einzig richtige Politik Russlands im Verhältnis zu den westlichen Großmächten bedeutet darum nicht etwa eine Allianz mit der einen oder der anderen der Großmächte (anzustreben), sondern deren Trennung und Spaltung untereinander (herbeizuführen). Und nur dann, wenn sie untereinander uneins sind, hören sie auf, uns gegenüber feindselig zu sein, und zwar kraft ihrer Ohnmacht.“6

Diese Äußerung stammt nicht etwa von Vladimir Putin aus dem Jahr 2022, sondern von einem großen russischen Dichter und Denker Fjodor I. Tjutčev aus dem Jahr 1864. Was Tjutčev hier diagnostizierte, ist die Existenz der zwei eigenständig und autonom bestehenden christlichen Zivilisationen, die einander unversöhnlich und feindselig gegenüberstehen. Nach Tjutčevs Geschichtsphilosophie werden sich die slawischen Völker unter Führung Russlands „zu einem Reich des Ostens zusammenschließen, von dem dann die Erneuerung der Welt ausgeht.“7 Diese Tradition der russischen Außenpolitik ist einer imperialen und messianischen Natur. Sie widerspricht entschieden dem ideologisch geleiteten Blockdenken des 20. Jahrhunderts.

Putins Außenpolitik folgt – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – der Tradition eben dieser russischen Außen- und Geopolitik. Putin tritt im Grunde in die Fußstapfen Stalins. Als „ein kontinental denkender Politiker“ ist Stalin in seiner geostrategischen Positionierung der traditionellen Moskauer Expansionspolitik treu geblieben und blickte nicht „sehr weit über die geographische Peripherie der Sowjetunion“ hinaus.8 Er beschränkte seine Geopolitik auf den eurasischen Kontinent und erwies sich dadurch als ein umsichtiger Stratege, der die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Sowjetstaates ökonomisch und machtpolitisch richtig einschätzte und nicht überschätzte. „Deswegen lehnte er auch nach 1945 alle Pläne der sowjetischen Marineleitung für ein ehrgeiziges Flottenbauprogramm zum Erwerb hochseefähiger Kampfschiffe für den weltweiten Einsatz oder den Aufbau strategischer Luftstreitkräfte interkontinentaler Reichweite in großem Umfang ab.“9

Mit der Konzentration aller Kräfte allein auf die Kernwaffenentwicklung und den Raketenbau hat Stalin an seiner Kontinentalmachtstrategie bis zu seinem Ableben 1953 festgehalten. Diese geostrategi-sche Positionierung der Sowjetunion änderte sich schlagartig mit dem Aufstieg Nikita Chruščovs zum Machthaber ganz Russlands. Mit ihrer „außerordentlich gesteigerten weltpolitischen Aktivität“ hat die Sowjetunion unter Chruščov „die dem Expansionskonzept Stalins eigentümliche Beschränkung fallen“ gelassen, „wonach kommunistischen Machtergreifungen nur in der räumlichen Nachbarschaft der Sowjetunion und mit der direkten oder indirekten Unterstützung der Roten Armee aussichtsreich und daher unterstützungswürdig seien.“10

Erst Nikita Chruščov leitete also den Übergang von „der klassischen Kontinentalhegemonie der Stalinschen Epoche“ zur Weltmacht- bzw. Supermachtstrategie ein. Er war der erste Herrscher Russlands, „der versuchte, die Weltpolitik zu machen,“ auch wenn er zunächst scheiterte, „weil die Mittel (noch) nicht ausreichten und weil er dabei die Sowjetunion ohne Deckung in Gefahr brachte. Seine dynamische Offensive gegen die amerikanische Weltmacht hatte Erfolge in Indien, im Nahen Osten und in Berlin, stellte aber in Kuba die Schwächen der Sowjetunion mit Eklat bloß.11

Diese von der Sowjetideologie ebenso wie vom persönlichen Machtstreben geleitete Zäsur in der (sowjetischen) Geostrategie, welche die traditionelle, seit Jahrhunderten praktizierte kontinentale Geopolitik samt Stalins vorsichtiger „Kontinentalhegemonie“ über Bord warf, hatte eine das System ökonomisch, technologisch und militärisch völlig überfordernde Überdehnung der sowjetischen Hegemonialpolitik mit verheerenden Folgen für die Existenz des Imperiums zufolge.

Chruščov traf damit eine fatale geostrategische Entscheidung, die dem Sowjetimperium samt seiner kommunistischen Ideologie letztlich zum Verhängnis wurde. Manche Sowjetnostalgiker haben bis heute die ganze Tragweite dieser auf Chruščov zurückzuführenden geostrategischen Entscheidung der sowjetischen Führung nicht verstanden und träumen immer noch von der Wiederherstellung der „glorreichen“ imperialen Vergangenheit sowjetischer Provenienz.

Das Sowjetimperium hat sich nämlich infolge seiner hegemonialen Überdehnung ökonomisch und ideologisch übernommen, ist sodann kollabiert und anschließend zerfallen. Vor dem Kollaps und Zerfall lagen aber dreißig lange Jahre der sowjetischen Expansions- und Weltmachtpolitik. Denn nach Chruščovs Abdanken war ein „Rückzug Russlands auf sich selber, eingeschlossen in der Großmachtfestung, die Stalin gebaut hatte, … nicht mehr möglich.“12 „Im Aufstieg zur Weltmacht war der Niedergang schon beschlossen.“13

Putin ist heute zu der traditionellen, bis auf Stalin mitgetragenen Kontinentalmachtstrategie zurückgekehrt. Russland hat auch und gerade unter Putin der sowjetischen seit Chruščov eingeleiteten Weltmachtstrategie ungeachtet des hier und heute stattfindenden Ukrainekrieges im Grundsatz abgeschworen und sie endgültig aufgegeben. Der Ukrainekonflikt hat seine Ursachen eben nicht in der Putin unterstellten Expansionspolitik bzw. seinem sog. „Neoimperialismus“, sondern vielmehr in der Nato-Expansionspolitik, vor der solche ausgewiesenen Russlandkenner wie George F. Kennan und Henry Kissinger bereits in den 1990er-Jahren eindringlich gewarnt haben. Die Ukraine wäre als Nato-Mitglied für Russland eine geostrategische Katastrophe, da es eine „strategische Tiefe“ – „den Puffer zwischen dem russischen Kernland und mächtigen europäischen Gegnern“ – verloren hätte, worauf die US-Denkfabrik Carnegie Endowment unlängst hingewiesen hat.14

Das Russland von heute zieht sich vielmehr in seine „Großmachtfestung“ zurück, sucht sich einerseits durch die immer enger werdenden ökonomischen und militärischen Beziehungen zu China abzusichern und versucht andererseits angesichts des feinseligen westlichen Umfeldes autark zu werden.

Vor dem Hintergrund der schwächelnden US-Hegemonie, der russischen Besinnung auf seine traditionelle Kontinentalmachtstrategie, die ihrem Selbstverständnis nach letztlich auf eine Revision der von den USA dominierten europäischen Sicherheitsordnung hinausläuft, und in Anbetracht eines fulminanten Aufstiegs Chinas zur geoökonomischen Supermacht besteht heute eine einmalige und einzigartige Großmächtekonstellation, die eine neue Sicherheitsarchitektur auf dem europäischen Kontinent möglich und erforderlich macht. Mit Recht weist Dmitrij Trenin darauf hin, dass „eine Reform der europäischen Sicherheitsarchitektur“ von „zwei Säulen – einer westlichen und einer russischen“ getragen werden muss und dass diese Sicherheitsarchitektur einen dauerhaften Frieden ohne Miteinbeziehung und Berücksichtigung der russischen Sicherheitsinteressen unmöglich gewährleistet werden kann.

Anmerkungen

1. Vgl. Alewyn, R., Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste. München 1985, 91.
2. Silnizki, M., Perspektivlose Russlandpolitik. Zwischen Krieg und Frieden. 20. Juli 2022, www.ontopraxiologie.de.
3. Vgl. Lavrov: „Если смотреть на сегодняшние события через историческую призму, то весь украинский кризис предстает как >большая игра< по сценарию, продвигавшемуся когда-то еще З. Бжезинским. Разговоры про добрые отношения, про готовность Запада учитывать права и интересы русских, очутившихся после распада СССР на независимой Украине и в других постсоветских странах, оказались не более чем инсценировкой. Уже в начале 2000-х годов Вашингтон и Евросоюз стали открыто требовать от Киева определиться, с кем он — с Западом или Россией?“
4. Maus, I., Vom Rechtsstaat zum Verfassungsstaat. Zur Kritik juridischer Demokratieverhinderung, in: Blätter f. deutsche u. internationale Politik 7 (2004), 835-850 (835).
5. Wittig, P., Partnerschaft mit den USA jetzt krisenfest machen, in: Handelsblatt, 22./23./24. Juli 2022, 64.
6. „Между Россией и Западом не может быть союза ни ради интересов, ни ради принципов, мы, русские, должны неизменно помнить, что принципы, на которых стоят Россия и Европа, столь противоположны, столь взаимно отрицают друг друга, что жизнь одной возможна только ценой смерти другой. Следовательно, единственная естественная политика России по отношению к западным державам, это не союз с той или иной из этих держав, а разъединение, разделение их. Ибо они только когда разъединены между собой, перестают быть нам враждебными — по бессилию.“ (Фёдор Иванович Тютчев, 1864).
7 Harms, M. (Hrsg.), Fjodor Tjutschew. Russland und der Westen. Politische Aufsätze. Berlin 1992, 9.
8. Ruehl, L., Russlands Weg zur Weltmacht. Düsseldorf /Wien 1981, 413.
9. Ruehl (wie Anm. 8), 413 f.
10. Grewe, W. G., Spiel der Kräfte in der Weltpolitik. Theorie und Praxis der internationalen Beziehungen. Düsseldorf Wien 1970, 224 f.
11. Vgl. Ruehl (wie Anm. 8), 416.
12. Ruehl (wie Anm. 8), 439.
13. Ruehl (wie Anm.8), 539.
14. Rumer, E./Weiss, A. S., Ukraine: Putin`s Unfinished Business. Carnegieendowment.org 12.11.2021.
15. Trenin, D., Arms accords between Russia and the west stand a chance despite treat of conflict.ft.com 18.02.2022.

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