Verlag OntoPrax Berlin

Russland und Europa

Eine gescheiterte Beziehung

Übersicht

1. Russland und Europa in Kriegs- und Krisenzeiten
2. Vom „postsowjetischen Russland“ zur eurasischen Großmacht?
3. Von Europa nach Eurasien?

Anmerkungen

„Через три десятилетия после распада Советского Союза Россия
не стала интегрированной частью Большой Европы. Россия не
получила >квартиру< в общеевропейском доме .“
(Dreißig Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion ist Russland kein
integrierter Teil Groß-Europas geworden. Russland hat keine
>Wohnung< im gesamteuropäischen Haus erhalten).
(Jurij Uschakow, 6. Dezember 2022)1

1. Russland und Europa in Kriegs- und Krisenzeiten

In einer Umdeutung des Spruchs von Georges Clemenceau , wonach Krieg „ein zu ernstes Geschäft (ist), als dass man es den Generalen überlassen dürfte“, muss man heute konstatieren, dass Frieden ein zu ernstes Geschäft ist, als dass man es den angstschürenden Populisten überantworten dürfe.

Der sog. „Primat der Politik“ ist nur solange und soweit richtig, als die Politiker verantwortungsbewusst mit ihren Machtbefugnissen umgehen und statt auf Eskalation auf Deeskalation setzen. Der Ukrainekrieg ist nicht unser Krieg und es ist verantwortungslos Angst davor zu schüren, dass „die Russen kommen“, wie die in Westdeutschland zurzeit des „Kalten Krieges“ grassierende Propaganda uns weismachen wollte, um uns in Angst und Schrecken zu versetzen.

„Nur eine geängstigte Bevölkerung lässt sich leicht manipulieren, gängeln und regieren“, empörte Helmut Wolfgang Kahn (1922-2005) sich in seinem Buch, das er unter dem den Mainstream provozierenden Titel „Die Russen kommen nicht“ 1969 veröffentlichte2. „Angsterhaltungspolitik“ nannte Kahn (ebd.) die westdeutsche „Sicherheitspolitik“ der 1960er-Jahre. „Wie Steinzeitmenschen sollen die idealen Westdeutschen sein: immer in Angst vor dem Feind, deshalb fügsam gegenüber den Chefs der Horde, weil alle Aggressivität, die ihrer Herrschaft gefährlich werden könnte, nach außen abgeleitet wird.“

„Angst“ – schrieb Helmut Schmidt im August 1966 in der Zeitschrift „Christ und die Welt“ zum Thema „Wie gefährlich sind die Russen?“ – ist „ein schlechter Ratgeber, Massenangst kann leicht zur Massenhysterie werden; Angst ist für den Demagogen manipulierbar; Angstreaktionen sind emotional, nicht rational. Auch Politiker in Angst sind in der Gefahr falscher und gefährlicher Reaktionen … Was die Sowjetunion angeht: Gewiss wäre ein deutscher Politiker fehl am Platze, der vor ihr >keine Angst< hätte – oder das behaupten würde … Aber ebenso wäre ein deutscher Politiker fehl am Platze, der seine Furcht vor dieser Macht zur Leitschnur seiner Russland-Politik machte.“3

Europa hatte schon immer eine ambivalente Beziehung zu Russland. Als es darum ging, Europa von den Napoleonischen Eroberungsfeldzügen zu befreien, war Russland höchst willkommen. Nach dem Sieg über Napoleon und seine Armeen sollte es gleich wieder aus Europa verschwinden. „Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“ Zu stark, zu gefährlich, ja zu angsteinflößend war Russland für die „zarten“ europäischen Gemüter.

Seit den Napoleonischen Kriegen geistert „das Gespenst der russischen Gefahr“ in Europa herum.4 Zu Kriegs- und Krisenzeiten wird es immer und immer wieder aus der Mottenkiste der Geschichte geholt und zwecks Kriegspropaganda reanimiert. Nichts ist so beständig wie die unausrottbaren Vorurteile und die gepflegten Ressentiments, die uns hartnäckig begleiten und die wir nicht loswerden können, ohne dabei zu begreifen, wie sehr wir ihnen unterworfen sind und wie kaum wir ihnen entkommen können, selbst wenn wir uns darum redlich bemühen würden.

Europa und nicht Russland war freilich der Unruheherd und das Epizentrum von ständigen Kriegen und Krisen seit Jahrhunderten, wohingegen Russland sich als eine der beiden Flügelmächte des 19. Jahrhunderts gelegentlich in das Kriegsgeschehen der europäischen Groß- und Mittelmächte eingriff, um sich bald daraus zurückzuziehen. Von Europa und nicht von Russland ging die größte Gefahr für die Welt aus. Von Europa und nicht von Russland gingen zwei verheerenden Weltkriege aus, was durchaus erneut passieren könnte, wenn wir weiterhin auf Eskalation statt Deeskalation setzen.

Auch zurzeit des „Kalten Krieges“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das nicht anderes. Bis heute streiten sich die Geister, wer dessen Urheber war und wer wen bedroht hat. Bereits 1980 war Wilfried Loth der Überzeugung, dass der unbegrenzte sowjetische Expansionismus „zu den zentralen Mythen des Kalten Krieges (gehörte), die durch die konkrete sowjetische Westeuropapolitik nicht zu belegen sind“5. Dass Stalin zudem von Anfang an das Ziel verfolgte, Osteuropa zu „sowjetisieren“, bestreitet der ehem. sowjetische Diplomat Georgij M. Kornienko (1925-2006) entschieden in seinen 1995 erschienenen Memoiren „Der Kalte Krieg“6. Zu Recht?

Nach dem unerwarteten Ableben des 32. US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges am 12. April 1945 übernahm Harry S. Truman die US-Präsidentschaft und vollzog rasch mit seinem bekannt gewordenen, an die Adresse des Außenministers James F. Byrnes (1882-1972) am 5. Januar 1946 gerichteten Spruch: „I`m tired of babying the Soviets“ eine drastische außenpolitische Kurskorrektur. Von nun an dürfte es weder Kompromisse noch Kooperationen mit Stalin in der Sicherung des Weltfriedens mehr geben, stattdessen eine Außenpolitik, „die auf dem Axiom eines potentiellen weltweiten sowjetischen Expansionismus basierte.“7

Die außenpolitische Kurskorrektur ging also von der amerikanischen und nicht von der sowjetischen Seite aus. „Während die amerikanische Regierung ihre Interessen durchzusetzen suchte und Konfliktlösungen nur noch in Form von Zugeständnissen der sowjetischen Seite erwartete, räumte die sowjetische Regierung zwar der Konsolidierung ihres Hegemonialbereiches Priorität ein, blieb aber im Übrigen bis in den Herbst 1947 hinein um die Herstellung eines kooperativen Verhältnisses zu den USA bemüht.“8

Mit Verweis auf den am längsten amtierenden sowjetischen Außenminister aller Zeiten Andrej A. Gromyko (1957-1985), den Kornienko auch persönlich kannte, bestätigt dieser indirekt Loths Ausführungen, wenn er schreibt, dass Stalin „an einer nach dem Krieg langfristig angelegten Kooperation mit dem Westen, vor allem aber mit den USA“, interessiert war.9

Alles in allem bleibt „das Gespenst der „russischen Gefahr“ dasjenige, was es immer schon war: ein Gespenst . „Die Russen kommen“ trotz aller Beteuerungen der um uns herumtobenden Kriegspropaganda auch diesmal nicht. Russland wendet sich vielmehr von Europa ab und Eurasien zu. Der Ukrainekrieg ist nicht unser Krieg. Er bedroht weder Europa noch unsere „Freiheit und Demokratie“, es sei denn, wir setzen weiterhin bewusst auf Eskalation statt Deeskalation. Dieser Krieg ist ein innerostslawischer Konflikt – ein Bürgerkrieg, der nicht nur ideologisch geprägt ist, sondern mittlerweile auch religiöse Züge angenommen hat.

2. Vom „postsowjetischen Russland“ zur eurasischen Großmacht?

Der Untergang der Sowjetunion brachte eine ideologische und geopolitische Zäsur mit sich. Was dann im postsowjetischen Russland infolge des Transformationsprozesses der 1990er-Jahren geschehen ist, erwies sich als ein Alptraum.10 Die Menschen wurden traumatisiert, das Land wurde deindustrialisiert, sozial deformiert und geopolitisch neutralisiert. Wen nimmt es Wunder, wenn die US-Geostrategen, allen voran Zbigniew Brzezinski, von der Beherrschung ganz Eurasien träumten.11

Es kam freilich alles ganz anders, als sie sich erhofft und erträumt haben. Putin ist es gelungen, Russland sozial, ökonomisch und politisch zu stabilisieren, wodurch es auch außen- und geopolitisch selbstbewusster und militärisch stärker geworden ist.

Und nun ein Krieg – der Ukrainekrieg! Eins ist heute gewiss geworden: Der Krieg hat das Ende der postsowjetischen Periode der russischen Geschichte ebenso, wie der westlichen Integration Russlands, besiegelt.

Die Tatsache, dass das postsowjetische Russland kein integrierter Teil des gesamteuropäischen Raumes geworden ist, haben die EU-Europäer und insbesondere der US-Hegemon vor allem sich selbst zuzuschreiben, da sie sich infolge ihres Siegesrausches über den „gewonnenen“ Kalten Krieg geweigert haben, Russland als einen gleichberechtigten Partner zu akzeptieren und in die westlichen Macht- und Sicherheitsstrukturen zu integrieren.

Jetzt rächt sich dieses ebenso übermütige wie kurzsichtige geostrategische Denken. Jetzt stecken wir nicht nur in der schlimmsten Krise, die Europa nach dem Ende des Ost-West-Konflikts je erlebt hat, sondern stehen auch am Rande einer globalen Konfrontation, die womöglich viel schlimmer als die Kuba- bzw. „Karibische Krise“ (wie Russen sie nennen) im Oktober 1962 sein wird.

Diese Entwicklung hat eine lange Vorgeschichte. Bereits 2016 stellte der Chefredakteur der renommierten russischen außenpolitischen Zeitschrift „Russland in der globalen Politik“, Fjodor Lukjanov , fest: „Es lässt sich konstatieren, dass das Vierteljahrhundert >ohne Konfrontation< vorbei ist. Doch eine Imitation des Kalten Krieges wird keines der Probleme lösen, derentwegen sie veranstaltet wird.“12

Nachdem die westliche Allianz „einen glatten Sieg“ erzwungen habe, da der Gegner praktisch „sich selbst auflöste“, irrte nach Lukjanov zunächst die Nato herum auf der Suche „nach einer neuen Mission und einer neuen Rolle in der Welt“, bis sie den alten Gegner neu entdeckte und ihre Daseinsberechtigung in der Antwort auf eine vermeintliche „Bedrohung durch Russland“ fand.

In einer anderen, ebenfalls 2016 erschienenen Studie13 empfiehlt Fjodor Lukjanov gemeinsam mit einem Petersburger Historiker Aleksej Miller eine „neue Weltordnung“ (новый мировой порядok). Die Welt stehe nämlich an der Schwelle zu einem neuen Paradigmenwechsel (мир стоит на пороге новой парадигмы). Und die Autoren stellen die folgende Kernthese auf: „Wie auch immer die künftige Weltordnung aussehen mag, sie wird womöglich dem früheren Schema internationaler Beziehungen ähneln, das von alters her bis zu der Mitte des 20. Jahrhunderts existierte.“

Der seit etwa der zweiten Hälfte der 2000er-Jahre ansetzende Wandel in der russischen Wahrnehmung des Westens führte nach Auffassung von Miller/Lukjanov dazu, dass der bedeutende Teil der russischen Elite und der russischen Bevölkerung aufhörte, perspektivisch an die Zukunft des Landes als Teil des Westens zu denken (vgl. ebd., 16). Was ist passiert? Auf diese Frage gehen die Autoren mit einer ausgesprochen bemerkenswerten und denkwürdigen Analyse ein: Die EU habe jahrelang geglaubt, dass sie berechtigt sei, die rechtlichen Rahmen der ökonomischen Beziehungen zu diktieren, wohingegen die politischen Beziehungen sich nach dem Grundsatz gestalteten, wonach Russland jedes Entgegenkommen seitens der EU erst einmal „verdienen“ sollte.

Zur Zeit der sog. „strategischen Partnerschaft“ zwischen Russland und der EU entstand eine paradoxe Situation: Die EU orientierte sich in ihrer Beziehung zu Russland am Modell, das für Länder vorgesehen war, die als Kandidaten in die EU aufgenommen werden sollten, obwohl Russland selbst zu keiner Zeit die Absicht hatte, in die EU aufgenommen zu werden und deswegen gar nicht verstand, warum es einseitig und freiwillig die Normen und die Regeln der EU übernehmen sollte. Die EU sah ihrerseits die Möglichkeit einer anderen Zusammenarbeit gar nicht vor. Das Großzügigste, was sie Russland angeboten hat, war – so der süffisante Hinweis von Miller/Lukjanov – das von Romano Prodi im Jahre 2000 verbreitete Angebot, mit Russland alles „mit Ausnahme der Institutionen“ zu teilen. Das sollte wohl – politisch übersetzt – darauf hinauslaufen: Moskau dürfte die Rechtsnormen der EU übernehmen, ohne selber auf sie irgendeinen Einfluss ausüben zu können. Eine völlig abstruse Vorstellung! Das hätte zur Folge gehabt, dass die sog. „östliche Partnerschaft“ zum Spielball des geopolitischen Kampfes zwischen Russland und dem Westen geworden wäre. „Die Konfrontation des Jahres 2014 wurde zu einer logischen Vollendung dieses Prozesses“ (ebd., 21).

Diese aufschlussreiche Analyse von Miller/Lukjanov zeigt die ganze Tragik des Verhältnisses zwischen Russland und dem Westen. Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems gestaltete es sich von Anfang an dysfunktional . Diese Dysfunktionalität wurzelte zum einen in der geopolitischen, ökonomischen und militärischen Überlegenheit des Westens und der daraus resultierenden ungleichen Partnerschaft zwischen den zwei axiologisch völlig heterogenen Raummächten und zum anderen in der konträren teleologischen und ideologischen Orientierung eben dieser ungleichen Partnerschaft. All das barg bereits im Keim die Gefahr des Scheiterns und es ist letztlich – wie wir heute wissen – auch gescheitert.

Selbst zur Zeit der sog. „Strategischen Partnerschaft“ bestanden – worauf Miller/Lukjanov zu Recht hinweisen – keine „normalen“ Handelsbeziehungen: Die an sich rein wirtschaftlicher Natur sein sollenden Geschäftsbeziehungen waren aber tatsächlich in die ideologischen Rahmen mit dem Ziel der Ausbildung gegenseitiger Abhängigkeiten eingebettet, „allerdings ohne eine formale Integration“ (но без формальной интеграции), sodass am Schluss sowohl die Politik als auch die Wirtschaft gelitten haben. Indem die EU die Frage der offenen Märkte und des Warenverkehrs ideologisierte und an die Frage von Rechtsstaat und Menschenrechten koppelte, provozierte sie das Gegenteil von dem, was sie eigentlich vermeiden wollte: die Abwendung Russlands von „europäischen Werten“. Moskaus gereizte Reaktion führte die EU schließlich in eine konzeptionelle Sackgasse (ebd., 21).

Die von Miller/Lukjanov diagnostizierte „Sackgasse“ ist eben die Folge der de facto bis zum 24. Februar 2022 andauernden Dysfunktionalität der ungleichen Partnerschaft zwischen den zwei axiologisch heterogenen Machräumen. Sie führte im Grunde dazu, dass der Westen zu keiner Zeit Russlands gleichberechtigte Partnerschaft anstrebte, sondern eine nie ausgesprochene Erwartung einer quasi naturgegebenen axiologischen Anpassung Russlands an die rechtlichen und ökonomischen Vorgaben bzw. „Standards“ der vom Westen dominierten Weltordnung hatte.

Was empfehlen nun Miller /Lukjanov für die Zukunft Russlands und sein Verhältnis zum Westen, um die „Sackgasse“ zu überwinden? Ein posteuropäisches Russland ! Die Fixierung auf die europäische Erfahrung und einen eurozentrischen Identitätsdiskurs könne nach ihrer These die Stabilität der staatlichen Einrichtungen Russlands aushöhlen. Seit Anfang der 2010er-Jahre diskutiert man in Russland die Frage nach eigenen Prinzipien der gesellschaftlichen Institutionen, die den von der EU propagierten „europäischen Werten“ entgegengesetzt sind. Wie sehen diese „alternativen Werte“ (альтернативные ценности) aus? Das Land benötige ein flexibles System von Prinzipien und Vorstellungen, welches die effektive Leitung des Staates gewährleiste und die Bedingungen für die Entwicklung der pluralistischen Gesellschaft schaffe (ebd., 28).

Auch „Europa befindet sich heute“ nach Meinung von Miller/Lukjanov „in einer vergleichbaren Situation wie Russland; die früheren Rezepte funktionieren nicht mehr. Der gegenwärtige Zustand Russlands und Europas sei allerdings grundsätzlich verschieden. Die Rezepte für eine künftige Entwicklung werden sie wohl unabhängig voneinander suchen (müssen). Was schlagen sie nun vor? Russland müsse die im Entstehen begriffene Tendenz zur Überwindung des eurozentrischen Denkens nutzen. Grundsätzlich sei es wichtig, das Momentum der Überwindung des Eurozentrismus nicht zum ‚Moment-Danilivskij‘ entarten zu lassen und Europa nicht als Feind zu betrachten. Die Lösung beruhe auf Konfliktvermeidung, eine Art nüchterner und nicht emotionaler Distanzierung, um die risikoreiche Konfrontation zu vermeiden (ebd., 30).

Unter den Bedingungen der „globalen Nichtprognostizierbarkeit“ (глобальная непредсказуемость) gebe es laut Miller/Lukjanov womöglich keinen größeren Wert als die eigene Manövrierfähigkeit zu wahren. Als flächenmäßig größtes Land der Erde sei Russland selbstverständlich wegen zahlreichen Nachbarn um sich herum immer an einer einvernehmlichen Konfliktlösung interessiert. Die Abwendung vom Eurozentrismus, die Minimierung von Konflikten mit Nachbarn, die Suche optimaler Lösungen für konkrete Probleme – all das sei die Art, die bevorstehenden Kataklysmen mit geringsten Verlusten zu überleben und sich auf bessere Zeiten der Weltgeschichte vorzubereiten (ebd.,32).

Diese frommen Wünsche gehören heute nunmehr der postsowjetischen Periode der europäischen Geschichte an. Und diese Geschichte ist mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zu Ende gegangen, weil das postsowjetische Russland nicht mehr existiert. Was heute an Stelle des postsowjetischen Russlands tritt bzw. im Entstehen begriffen ist, ist ein Russland als eurasische Großmacht , die sich von Europa abwendet als Reaktion auf die Abschottung Europas von Russland und die Entstehung des von Europa errichteten neuen „Eisernen Vorhangs“.

Die Studie von Aleksej Miller und Fjodor Lukjanov aus dem Jahr 2016 zeigt mit aller Deutlichkeit, dass die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen in eine Sackgasse waren, lange bevor es mit dem Kriegsausbruch in der Ukraine zum endgültigen Bruch zwischen den beiden geopolitischen Rivalen gekommen ist. Und dieser Bruch ist auf lange, sehr lange Zeit angelegt. Er kennzeichnet im Grunde das Ende der postsowjetischen Periode der russischen Geschichte und die Entstehung eines Russlands, das sich von Europa bzw. dem Westen abwendet und sich dem Nichtwesten bzw. Eurasien zuwendet.

3. Von Europa nach Eurasien?

Der Kriegsausbruch an der europäischen Peripherie bedeutet nicht nur das Ende der postsowjetischen Periode der russischen Geschichte, sondern auch der Abschluss der postsowjetischen Geschichte Europas, die krachend gescheitert ist. Infolge dieses Scheiterns wurden explosive und unberechenbare Kräfte der Zerstörung freigesetzt, welche die mühsam aufgebauten Beziehungen zwischen Russland und Europa bzw. dem Westen endgültig unter sich begraben haben.

Seit dem Kriegsausbruch in der Ukraine und dem beispielslosen Sanktionskrieg zwischen Russland und dem Westen wenden sich die beiden geopolitischen Rivalen voneinander ab und Russland orientiert sich sicherheits- und wirtschaftspolitisch zunehmend in Richtung Eurasiens bzw. des Nichtwestens.

Als der russische Außenminister Sergej Lawrow vor vier Jahren seinen Kollegen Heiko Maas getroffen hat, merkte Pavel Lokshin in seinem Artikel „Sergej Lawrows fragwürdige Groß-Eurasien-Rhetorik“ (Die Welt, 14.09.2022) an: „Bei seinem Besuch in Berlin bemühte sich Russlands Außenminister Sergej Lawrow um den Ausgleich zwischen Russland und der EU, tat es aber mit altbekannten russischen Narrativen … Lawrow griff die alte Rhetorik von Putin auf, der schon vor Jahren von einer Art Groß-Eurasien mit europäischer Beteiligung träumte.“

Längst sind freilich die Zeiten vorbei, in denen Putin und Lawrow von einer „europäischen Beteiligung“ an „Groß-Eurasien“ träumten. Heute geht es der russischen Führung weder um ein „gemeinsames europäisches Haus“ wie zurzeit von Gorbačevs Perestrojka noch um das Bemühen um die Integration Russlands in die westlichen Institutionen, wie sie seit dem Untergang der Sowjetunion immer wieder versucht hat. Vielmehr geht es ihr um eine Neuerfindung Russlands als eurasischer Großmacht , die sich in ihrer Abwendung von Europa in Richtung Nichtwesten (China, Indien, Ostasien, Indopazifik usw.) orientiert.

Diese Umorientierung ist auch kein Novum im russischen außenpolitischen Denken. Sie wurde von der russischen Außenpolitik nur nicht nachdrücklich verfolgt. Die Zeit war dafür eben noch nicht reif. Heute steht sie ganz vorne auf der Tagesordnung der russischen Außenpolitik.

Der einflussreiche außenpolitische Vordenker Sergej Karaganov propagiert diese Idee schon seit Jahren. In einem Interview vom 22. Oktober 2017 meint er mit Bezug auf die geopolitischen Spannungen selbstbewusst und voller Vorwürfe an die Adresse des Westens: „Wir bleiben nicht in den Schützengräben sitzen. Zusammen mit den Chinesen sind wir die Hauptgaranten der Weltsicherheit. Wir haben den Krieg in Europa verhindert, indem wir die Pläne der Ukraine durchkreuzt haben. Wäre sie ein Mitglied der NATO geworden, dann wäre der Krieg unvermeidbar.“14

Diese Sätze wurden im Jahr 2017 niedergeschrieben! Für das russische außenpolitische Establishment war mit anderen Worten völlig klar: Die Nato-Mitgliedschaft der Ukraine bedeute Krieg, Krieg und nochmals Krieg.

Mit Verweis auf die globalen Entwicklungen sagt Karaganov in dem Interview weiter: „Außerhalb Groß-Eurasiens, das Russland und China umfasst, beginnt die Weltordnung zu zerfallen, und zwar deswegen, weil die USA versuchen – von der Konkurrenz bedroht -, die Außenhandelsbeziehungen zu politisieren. Wir beobachten eine gewisse Deglobalisierung der Welt. Die sogenannte nordatlantische Ordnung fängt an zu zerfallen, weil sich die USA von Europa entfernen. Der Nahe Osten steht ebenfalls im Flammen und zerfällt, nicht zuletzt wegen zahlreicher Fremdeinmischungen. Was die sogenannte liberale Weltordnung angeht, die angeblich seit 1945 existiert, so ist das eine glatte Lüge. Sie entstand etwa um 1991. Das war die Herrschaft des Westens in allen Bereichen, wobei diese Weltordnung weder liberal noch frei war. Man verstand darunter vielmehr die Forderung des Westens an die Adresse aller anderen Länder, sie sollten das einzig wahre, (westliche) Modell übernehmen, die westliche Führerschaft akzeptieren und sich die einzig wahre Ideologie zu eigen machen. Diese sogenannte Weltordnung war natürlich keine Ordnung, weil der Westen anfing, eine Aggression nach der anderen zu betreiben. Das geschah auch deswegen, weil Russland zu schwach, unfähig und nicht in der Lage war, den Westen einzudämmen, der sich allmächtig fühlte, und das bekanntlich zu dem führte, was wir in Jugoslawien, Irak, Libyen und den anderen kleineren Geschichten beobachten durften.“

Neuerlich äußerte Karaganov sich erneut zum Thema. In seiner programmatischen Schrift „Vom Nichtwesten zur Weltmehrheit“15 stellte er am 1. September 2022 unmissverständlich klar: „Die Zeit, in der sich Russland in die hauptsächlich vom Westen geschaffene Weltordnung zu integrieren versuchte, ist zu Ende gegangen. Es wäre allerdings besser, wenn dies früher geschehen wäre. Der Konflikt zwischen Russland und dem Westen ist zu einer direkten Konfrontation, zum hybriden Krieg, übergegangen. Dieser Krieg ist auf Dauer angelegt, und zwar unabhängig davon, was an der ukrainischen Front geschieht. Die Ukraine ist ein aktueller und offenkundiger, aber bei weitem nicht der einzige und nicht einmal der wichtigste Schauplatz dieser Konfrontation.“

Und Karaganov fügte gleich hinzu: Es gehe um die Zukunft Russlands als eines souveränen Staates mit seiner eigenartigen Zivilisation. „Russland verlässt (endgültig) die euroatlantische Zivilisation in ihrer gegenwärtigen Erscheinungsform (Россия уходит от цивилизации евроатлантической в современном её виде). Sie hat Russland zwar nicht wenig gegeben. Heute brauchen wir sie aber nicht mehr, geschweige davon, dass sie immer mehr im Widerspruch zu unserer historischen Tradition, Kultur und unseren Werten steht. Vom Standpunkt des eigenen Koordinatensystems degeneriert der Euroatlantismus ja selber in einem rasanten Tempo.“

Und nun hat der russische Außenminister Sergej Lawrow einen dicken Schlussstrich unter diese wechselhafte und spannungsgeladene Beziehung zwischen dem postsowjetischen Russland und dem vom US-Hegemon geleiteten Westen gezogen. In seiner Pressekonferenz vom 1. Dezember 2022 erklärte Lawrow , der vom Treffen der Außenminister der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ausgeschlossen wurde, dass eine Zusammenarbeit zwischen Russland und dem Westen im Bereich der europäischen Sicherheitspolitik „in absehbarer Zeit“ ausgeschlossen sei. Wörtlich sagte Lawrow : „Wann auch immer unsere westlichen Nachbarn … und ehemaligen Partner plötzlich Interesse zeigen würden, eine Zusammenarbeit im Sicherheitsbereich wiederherzustellen, die Wiederherstellung wird misslingen. Denn eine Wiederherstellung bedeutet die Rückkehr zu dem, was früher war. Business as usual wird es aber nicht mehr geben (Если и когда в какой-то момент времени наши западные соседи – а от соседства никуда не деться – и бывшие партнеры вдруг заинтересуются тем, чтобы как-то восстановить совместную работу по европейской безопасности, то восстановления не получится, потому что восстановление означает вернуться к чему-то, что было раньше. Но бизнеса как обычно не будет).“

„Erst wenn der Westen begreift, dass eine Nachbarschaft auf eine einvernehmliche und gleichberechtigte Grundlage besser ist“ – fügte Lawrow hinzu -, ist Russland bereit, die Vorschläge des Westens anzuhören. „Klar ist auch, dass eine solche Übereinkunft auf ganz neuen Prinzipien gegründet werden muss (Ясно, что это должны быть принципиально новые начала).“

Europa habe aus russischer Sicht seine sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit verloren, weil es seine sicherheits- und geopolitische Souveränität an die überseeische Macht abgegeben habe und weder sicherheitspolitisch noch geopolitisch handlungsfähig sei. Die sicherheitspolitische Lage sei heute in Europa viel schlimmer als zurzeit des Ost-West-Konflikts, weil Europa aus Übermut, Ignoranz und Selbstüberschätzung sich selbst gefährde und sich von den überseeischen „Freunden“ in die Gefahrenzone treiben lasse.

Aus der vermeintlichen Angst vor der „russischen Gefahr“ begeht Europa Selbstmord, indem es eine aus dem Ruder geratene Eskalation willig in Kauf zu nehmen bereit ist. Russland wendet sich zu gleicher Zeit mit Riesenschritten von Europa ab, nicht weil es das will, sondern weil es dazu gezwungen wird und keine Zukunft in Europa mehr sieht. Und so schlittern wir immer mehr und immer tiefer in eine Konfrontation, aus der es anscheinend keinen Ausweg mehr gibt. Oder doch?

Anmerkungen

1. Jurij Uschakow ist Putins außenpolitischer Berater.
2. Kahn, H. W., Die Russen kommen nicht. Fehlleistungen unserer Sicherheitspolitik. München Bern Wien 1969, 15.
3. Zitiert nach Kahn, H. W., Helmut Schmidt. Fallstudie über einen Populären. Hamburg 1973, 73.
4. Silnizki, M., „Die russische Gefahr“. Im Schatten des Ukrainekrieges. 20. April 2022, www.ontopraxiologie.de.
5. Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 63 FN 16.
6. Корниенко, Г. М., Холодная Война. Свидетельство её участника. Москва 1995, 9 ff.
7. Loth (wie Anm. 5), 115 f.
8. Loth (wie Anm. 5), 116.
9. Корниенко (wie Anm. 6), 18: „Cталин . . . был настроен на длительное послевоенное сотрудничество с Западом, и прежде всего с США“.
10. Näheres dazu Silnizki, M., Geoökonomie der Transformation in Russland. Gajdar und die Folgen. Berlin 2022.
11. Silnizki, M., Brzezinskis „imperiale Geostrategie“ im Lichte der Gegenwart. Zum Scheitern der US-amerikanischen Russlandpolitik. 9. November 2022, www.ontopraxiologie.de.
12. Lukjanov, F., Logik der Konfrontation: das interne Motiv, in: Russland-Analysen, Nr. 320 vom 15.07.2016, 2-5 (2).
13. Миллер, А./Лукьянов, Ф., Отстраненность вместо конфронтации: постевропейская Россия в поисках в самодостаточности. 2016.
14. Караганов, С., Холодная война: прогноз на завтра, в: Российская газета, № 7405 (239), 22.10.2017.
15. Караганов С.А. От не-Запада к Мировому большинству. In: Россия в глобальной политике. 1. September 2022.

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