Verlag OntoPrax Berlin

Russlandpolitik in einer ewigen Zeitschleife

Stellungnahme zu einer SWP-Studie

Übersicht

1. Im Geiste des Kalten Krieges
2. „Neues Mächtekonzert“ oder globale Gleichgewichtspolitik?
3. Mythos von „der russischen Gefahr“ (am Beispiel der Arktis)
4. Perspektivlose Russlandberatung
5. „Geopolitisierung“ der EU-Außenpolitik: Realität oder Fiktion?

Anmerkungen

„Keinem europäischen Staatsmann wäre es vor dem Jahr 1914 in den Sinn gekommen, gegen die internen Handlungen Russlands einzuschreiten.“Francesco Nitti (1925)

1. Im Geiste des Kalten Krieges

Die westliche Außenpolitik sitzt in einer Zeitschleife des Kalten Krieges fest und immer wieder weht dessen Geist durch die westlichen Korridore der Macht ebenso, wie durch manche sog. „Denkfabriken“. In einer solchen „Denkfabrik“ – Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) – ist gerade eine neue, im September 2021 veröffentlichte Studie „Deutsche Außenpolitik im Wandel“1 erschienen.

Die Studie unternimmt zwar zaghafte Versuche, aus der ewigen Zeitschleife des Kalten Krieges auszubrechen, der Ausbruch scheitert aber immer und immer wieder. „Im Wandel“, von dem wortreich in der Studie die Rede ist, befindet sich allein die Terminologie, die sich von den Parolen des Kalten Krieges unterscheidet. An die Stelle des (sowjetische) Totalitarismus, Expansionismus und Strebens nach der Weltherrschaft2 treten nunmehr Putins „Autokratie“, „Autoritarismus“, „Aggression“, „Bedrohung“ und „Destabilisierung des Westens“ bzw. der „liberal-demokratischen Weltordnung“ (neuerdings zusammen mit China), „bewusste Provokationen“ und nicht zuletzt die aus der Mottenkiste des Kalten Krieges geholte „Systemkonkurrenz“.

Auch die SWP-Konkurrenz schläft nicht. Als Repräsentant der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) predigt Stefan Meister im gleichen Geist die sog. „pragmatische Russlandpolitik“. Diese erweist sich aber beim näheren Hinsehen als nichts anderes als eine Worthülse und bleibt sinnentleert, solange sie „eine Russlandpolitik“ befürwortet, die zwar nicht „in eine ideologische Kritik abzugleiten“ verspricht, gleichzeitig aber über eine „autoritäre Herausforderung“ spricht, die angeblich „autoritäre Regime“ fördert, „die Schwächung von Demokratie weltweit“ und „die Einmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten“ betreibt.3

Der „Pragmatiker“ merkt dabei nicht einmal, wie sehr er in der eigenen ideologischen Terminologie verstrickt ist. Zu Zeiten des Kalten Krieges hätte man ihn mit Golo Mann als einen „ideologischen Anti- Ideologen“ entlarvt.

Der Geist des Kalten Krieges ist in der SWP-Studie allgegenwärtig. Sie beklagt stets „die russische Gefahr“ ebenso, wie Russlands „potentielle Bedrohung“ des Westens, unterschlägt aber gleichzeitig die westliche Eskalationsdominanz und einen unbändigen Expansionsdrang. Der Westen sei ja über jede Kritik erhaben, befinde sich stets in einer Defensive, enthalte sich selbstverständlich jeder Eskalation und wartet nur „ehrfurchtvoll“ auf die ständigen Angriffe der Russen. Dabei spielt es gar keine Rolle, dass der Westen seit gut zwanzig Jahren die Interventionskriege führt und dass die NATO seit dem Ende des Kalten Krieges um ca. 1000 Quadratkilometer gen Osten expandierte. Diese Entwicklung solle „natürlich“ weder Russlands Sicherheits- noch nationale Interessen tangieren.

In dem Geiste des Kalten Krieges gefangen, predigt die vorgelegte SWP-Studie zwar einen „Wandel“ der deutschen Außenpolitik, der aber – was die Russlandpolitik angeht – bestenfalls andeutungsweise vorhanden ist. Manche Beiträge werden zwar in ihrer Analyse der außen- und geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart realistisch und pragmatisch verfasst, können sich aber nach wie vor aus einer ideologischen Umklammerung des Kalten Krieges nicht befreien.

Die tektonischen Machtverschiebungen in der Weltpolitik der vergangenen zwanzig Jahre hinterlassen allerdings auch in der SWP-Studie ihre Spuren. Immerhin geht sie bereits in der Einleitung von der Erkenntnis aus, „dass der Westen an Anerkennung verlieren und der Einfluss seiner Werte und normativen Vorstellungen (weiter) schwinden wird“ (S. 5). Dass die Autoren zugleich nicht nur den Einfluss der „westlichen Werte“, sondern auch der „Führungsmacht USA“ sowie der NATO, der EU undDeutschland im globalen Raum schwinden sehen, ist sehr bemerkenswert, litten doch die außenpolitischen Eliten noch vor kurzem an einem geradezu pathologischen Eskapismus.

Der Realitätssinn und das ideologische Vorverständnis werden dessen ungeachtet immer noch unentwirrbar vereint: Einerseits werden „eine Erosion demokratischer Prozesse“, „zunehmend systemisch überhöhte Rivalität zwischen China und den USA“, verschärfende Groß- und Regionalmachtrivalitäten beklagt; andererseits glauben die Verfasser der Studie einen „wachsenden –teils transnational verbundenen – Autoritarismus“, „Menschenrechtsverletzungen“ oder „gegen internationale Vereinbarungen verstoßende Regelbrüche“ erkannt zu haben.

Abgesehen davon, dass sich diese Pauschalvorwürfe genauso gegen die eigene Klientel richten können, zeigen die Auslassungen, dass Ideologie und Geopolitik wie zurzeit des Kalten Krieges eng aneinandergekoppelt und miteinander vermengt werden. Die Vermengung ideologischer und geopolitischer Erwägungen verstellt allerdings den Blick auf die außenpolitischen Realitätsbezüge und führt meistens dazu, dass die Ideologische Urteilsbildung die geopolitische bei weitem dominiert und dadurch die außenpolitische Realitätswahrnehmung verzerrt.

Solche ideologisch induzierten Zerrbilder können nicht nur die politisch Handelnden in die Irre führen, sondern unter bestimmten Umständen auch den Weltfrieden gefährden. Es ist darum an der Zeit, den Geist des Kalten Krieges ein für alle Mal zu überwinden und über eine andere Russlandpolitik nachzudenken.

2. „Neues Mächtekonzert“ oder globale Gleichgewichtspolitik?

Einen beachtenswerten Beitrag, in dem ein frischer Wind weht, hat Barbara Lippert vefasst5. In Anlehnung an ihren amerikanischen Kollegen Richard N. Haas und Charles A. Kupchan setzt sie sich mit deren „Modell eines neuen Mächtekonzerts“ („The New Concert of Power“) vor dem Hintergrund der geopolitischen Entwicklungen der Gegenwart auseinander. Dass es höchste „Zeit für Diplomatie“ wird, hebt Lippert bereits im Titel ihres Beitrages hervor, schränkt aber zugleich ein: Deutschland sollte ein solches „Mächtekonzert“ zwar „nicht politisch als alternatives Ordnungsmodell unterstützen, könnte aus den Gedankenspielen dazu aber Impulse für die Wiederbelebung einer regelgebundeneninternationalen Ordnung ziehen“ (S.13).

Das Schlagwort von einer sog. „regelgebundenen Ordnung“ geistert schon seit etlichen Jahren herum, ohne dass jemand es zu präzisieren für nötig hält. Von welcher „regelgebundenen internationalen Ordnung“, die „wiederbelebt“ werden soll, ist also hier die Rede? Von dem UN-Recht, einem seit dem Ende des Kalten Krieges ausgebildeten US-Selbstermächtigungsrecht oder vielleicht vom NATO-Interventionsrecht gegen die „Schurkenstaaten“ zur „Friedensschaffung“? Man hätte eine Präzisierung des Begriffs erwarten dürfen. Doch weit gefehlt! In Lipperts Ausführungen wird überhaupt nichts definiert, sondern alles als bekannt vorausgesetzt. Das scheint eine verbreitete und übliche Vorgehensweise aller Beiträge der SWP-Studie zu sein. Es wird nichts definiert, stattdessen bloß axiomatische Behauptungen aufgestellt und als nicht mehr hinterfragbare „Wahrheiten“, diekeines Beweises bedürften, hingestellt.

Im Zentrum des Konzepts vom „new concert of powers“ steht ein „aus den Rivalen USA und China“ bestehender „bipolarer Kern“, der „zusammen mit der EU sowie Indien, Japan und Russland das propagierte Konzert“ bildet. Die Sechs sollten laut dem „Modell“ „eine enge, informelle und flexible Zusammenarbeit (pflegen), deren Ziel und Zweck darin besteht, Stabilität im Sinne des territorialen Status quo zu sichern. Die Sechs schließen wechselseitig eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten aus und respektieren zugunsten politischer Inklusion jedweden Herrschaftstyp. Das Konzert . . . ist faktisch den UN und Gruppen wie der G7 übergeordnet“ (S. 13).

Dieses Konzept vom „new concert of powers“ hält der geopolitischen Realität nicht stand: Zum einen existiert heute kein „bipolarer Kern“ einer multipolaren Ordnung. Die bipolare Blockkonfrontation des Kalten Krieges ist längst zu Ende gegangen und kommt in welcher Gestalt auch immer nicht wieder zurück. Es ist ein überkommenes ideologisches Konstrukt der untergegangenen Blockkonfrontation, der keine macht- bzw. geopolitische Realität der Gegenwart zugrunde liegt: Die USA können heute nicht (mehr) und China will (noch) nicht „führen“ und lässt sich auch vom Westen nicht in die Ecke eines Systemrivalen drängen. Das ist weder chinesische noch russische Denkweise, sondern ein westliches ideologisches Konstrukt aus den Zeiten des Kalten Krieges.

Zum anderen können die sechs willkürlich ausgewählten Staaten weder geopolitisch noch geoökonomisch auf eine Stufe gestellt werden. Die EU, Japan und Indien sind geopolitische Zwerge (Japan ist zudem ein geopolitisches Anhängsel der USA), wohingegen Russland ein geoökonomischer Gnom ist und von den geoökonomischen Supermächten USA und China, aber auch der EU, nicht ernst genommen wird.

Diese geopolitischen und geoökonomischen Ungleichgewichte verunmöglichen eine Einigung zwischen den willkürlich ausgewählten und als „Großmächte“ postulierten Staaten. Wo aber „Einigkeit nicht zu erzielen ist“ – meint Lippert zu Recht -, bleibt „auch das Mächtekonzert machtlos“ (S. 13).

Wozu thematisiert die Verfasserin dann das „new concert of powers“? „Aus Sicht Washingtons könnte das Format helfen, die offensiv revisionistischen Mächte China und Russland einzuhegen und vor allem Pekings hegemonialen Ansprüchen entgegenzutreten . . . Auch das Konzert dürfte etwa Russland keine freie Hand in seiner Nachbarschaft lassen . . . Aus Sicht Pekings wie Moskaus erschiene die Absage an Regime-change-Strategien besonders attraktiv“ (S. 14).

Zu Recht distanziert sich Lippert von diesem imaginären „concert of powers“: „Aus deutscher Sicht überzeugt eine solche Superstruktur“ nicht, stellt sie apodiktisch fest. Das Mächtekonzert würde sich „bestenfalls vor Ausbruch eines Konflikts deeskalierend einschalten. Es könnte sich jedoch als ebenso dysfunktional und träge entpuppen, wie es gegenwärtig der Sicherheitsrat ist, der insofern den Zustand des kollektiven Sicherheitssystems der UN abbildet“ (S. 14).

Wenn das „Modell“ nutzlos, weil dysfunktional sei, warum setzt Lippert sich dann damit auseinander? Lipperts Antwort ist genauso schlicht wie einfältig: „Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass die G7 nach Trump ambitionierter als Taktgeber internationaler Politik auftritt“, um „über machtpolitische und ideologische Gräben hinweg Vertrauen und Berechenbarkeit des Handelns“ entstehen zu lassen (S. 15). Aber wie? Mit Hilfe eben dieses gerade noch abgelehnten„Mächtekonzerts“, das „eine (friedliche) Koexistenz im Systemkonflikt zwischen den USA und dem liberal-demokratischen Westen auf der einen und China auf der anderen Seite ermöglichen würde“ (S. 15).

Vom welchem „Systemkonflikt“ ist hier schon wieder die Rede? Wir leben heute im 21. und nicht im 20. Jahrhundert. Die Zeiten der ideologischen Systemkonfrontation und der bipolaren Weltordnung sind doch längst vorbei. Im Geiste der vergangenen ideologischen Gefechte gefangen, merkt Lippert nicht, wie sehr sie die geopolitische Realität des 21. Jahrhunderts durch die ideologische Brille betrachtet und damit verkennt. Was zwischen dem US-Hegemon und China stattfindet, ist kein„Systemkonflikt“, sondern eine spätestens von der Trump-Administration ausgelöste und erbittert geführte geoökonomische Konfrontation.

Nein, „new concept of powers“ ist auf Sand gebaut. Lipperts Argumentation für und gegen das „Modell“ dreht sich zudem in einem ideologischen Kreis, aus dem sie zwar redlich, aber erfolglos auszubrechen versucht. Gefangen in diesem ideologischen Kreislaufsystem, versteht sie ebenso, wie ihre Vorgänger zurzeit des Kalten Krieges, einfach nicht, dass es sich nicht um einen vom Westen fabulierten „Systemkonflikt“, sondern allein um eine geopolitische und geoökonomische Großmächterivalität handelt. Diese ideologisch bedingte Reduktion der außenpolitischen Konfrontation allein auf einen „Systemkonflikt“ bei gleichzeitiger Ausklammerung eines mächtigen geopolitischen Akteurs wie Russland aus dem imaginären „bipolaren Kern“ verstellt den Blick der Betrachterin und verunmöglicht eine ideologiefreie Analyse der geopolitischen und geoökonomischen Realität.

Die weltpolitische Gemengelage sieht nämlich vor dem Hintergrund der Großmächterivalität ganz anderes aus, als das von Lippert skizzierte amerikanische „Modell eines neuen Mächtekonzerts“ vermuten lassen. Die Geschichte erlebt seit Beendigung des Kalten Krieges nicht ihr „Ende“, sondern genau umgekehrt die Rückkehr zu ihrem Ursprung, nämlich zu einer dem sog. „Europäischen Konzert“ nahekommenden globalisierten Großmächterivalität. Was wir vorfinden, ist weder „die aufziehendeG2-Struktur“ (S. 15) noch die sog. „B-Akteure des Konzerts“ (die EU, Japan, Indien und „mittelfristig auch Russland“, S. 16). Was wir vielmehr feststellen können, ist die Existenz von zwei unterschiedlich starken globalen Triaden, die mit-, gegen- oder nebeneinander agieren und handeln:

(1) Eine mächtige geopolitische Triade (Kissingers sog. „großes strategisches Dreieck“), die aus USA, Russland und China besteht.
(2) Eine mächtige geoökonomische Triade, die aus den USA, China und der EU besteht.

In den beiden globalen Triaden sind gleichzeitig nur zwei Machtzentren vertreten: die USA und China, was die herausragende globale Bedeutung der beiden nur noch unterstreicht, wohingegen Russland und die EU in jeweils der anderen Triade fehlen. Dieses doppelte, mit unterschiedlichem Machtgewicht ausgestattete Triaden-Geflecht entscheidet über die Zukunft des globalen Raumes.6

Vor diesem Hintergrund geht es nicht so sehr um „eine enge, informelle und flexible Zusammenarbeit“ des „Mächtekonzerts“, als vielmehr um eine globale Gleichgewichtspolitik.7 Diese Gleichgewichtspolitik muss drei Grundvoraussetzungen erfüllen:

(1)  Die Akzeptanz der unterschiedlichen Verfassungsordnungen als Vorbedingung der friedlichen Koexistenz der Großmächte (realpolitisches Gleichgewicht).
(2)  Die Überwindung des westlichen und insbesondere US-amerikanischen Anspruchs, die Weltordnung nach eigenen Wertvorstellungen gestalten zu wollen (axiologisches Gleichgewicht).
(3)  Die Einsicht in die Grenzen der eigenen ökonomischen und monetären Möglichkeiten als Grundvoraussetzung des Kräftegleichgewichts (geoökonomisches Gleichgewicht).

Im Zeitalter der Geoökonomisierung der Geopolitik und der erbittert geführten Informationskriege geht es um eine globale Gleichgewichtspolitik als Entspannungspolitik zwecks Gewährleistung einer friedlichen Koexistenz und nicht um die Überwindung einer nicht existierenden „Systemkonfrontation.“ Diese westliche ideologiegeleitete Sicht auf die heutige Welt muss endlich überwunden werden, um aus der Zeitschleife des Kalten Krieges ausbrechen und eine andere Außen- und Weltpolitik machen zu können.

3. Mythos von „der russischen Gefahr“ (am Beispiel der Arktis)

Wie der „prinzipiell keiner geographischen Beschränkung“ unterliegende sowjetische Expansionismus „zu den zentralen Mythen des Kalten Krieges“8 gehörte, so sieht die westliche Russlandpolitik auch heute unter jedem Kieselstein eine „russische Gefahr“ und wittert hinter jeder Sibirischen Fichte eine „potentielle Bedrohung“ des Westens. In ihrem Beitrag „Maritime Wahl: Indo- pazifische versus arktisch-nordatlantische Prioritäten“9 erheben die Autoren Michael Paul und Göran Swistek schwere Vorwürfe gegen die russische Arktis-Politik. Hier wird der interessierten Öffentlichkeit ein „Sündenkatalog“ präsentiert, das Russland „zur Destabilisierung des Westens“ nützt: „Invasion Georgiens 2008“, „Annexion Krim 2014“, der „andauernde Krieg in der Ukraine“ dürften dabei genauso mitgezählt werden, wie die verdeckten und offenen Mittel, die sich „von militärischer Aufrüstung und bewusster Provokation über die Einmischung in die Politik und Wahlen der europäischen Länder bis hin zu konstanten Übergriffen im Cyber- und Informationsraum“ (S. 41) erstrecken.

Diese zusammenhanglos aneinandergereihten Ereignisse, unterstellten Provokationen und Übergriffe, die nicht im Geringsten etwas miteinander zu tun haben, sollen mutmaßlich die akute Bedrohung des Westens seitens des „aggressiven“ und zu allem bereiten Russlands suggerieren, als hätte der Ost-West-Konflikt nicht längst der Vergangenheit angehört und als wäre der Kalte Krieg nicht seit dreißig Jahren beendet worden. Russländische Föderation ist weder das Sowjetsystem noch das Sowjetimperium; sie besitzt weder eine Staatsideologie noch eine mit der Sowjetunion vergleichbare ökonomische und militärische Potenz.

Kann oder will man diese Binsenwahrheit nicht akzeptieren? Wozu soll dieses Schüren der ständigen Angst vor der angeblichen „russischen Gefahr“ gut sein? Führen die westlichen Geheimdienste etwa keinen Cyberkrieg im russischen Informationsraum? Gibt es keine westliche Einmischung in die russische Innenpolitik? Praktiziert der Westen seit dem Zusammenbruch des Sowjetsystems keine sog. „Demokratieförderung“, welche die russische Gesellschaft im Sinne der sog „westlichen Werte“umzuerziehen versucht?

Man hätte zudem auch gerne wissen wollen, wo und wann genau die unterstellte „bewusste Provokation“ und „die Einmischung“ stattgefunden haben sollen. Davon hören wir nichts. Stattdessen werden Beweise durch Behauptungen substituiert. Diese undifferenzierte wie oberflächliche Aufzählung und Aneinanderreihung von Ereignissen, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten stattgefunden haben sollen, verleiten die Verfasser zu manchen Urteilen, die eher ideologisch motiviert sind denn auf eine ernstzunehmende realitätsadäquate außenpolitische Analyse der Beziehungen zwischen Russland und dem Westen hindeuten.

Stellt Russland wirklich für „Deutschland und Europa . . . mit seinem Agieren derzeit die unmittelbarste und direkteste Bedrohung dar – sowohl hinsichtlich der Freiheit der Schifffahrt wie des Eskalationspotentials, das sich aus dem russischen Verhalten gegenüber nordischen Staaten und der anhaltenden Militarisierung des arktisch-nordatlantischen Raums ergibt“ (S. 44)? Woher kommt auf einmal dieser aggressive Zungenschlag, war doch Michael Paul noch Anfang des Jahres der Meinung,dass Russlands Arktisstrategie „prinzipiell defensiv ausgerichtet“10 sei? Und heißt es nicht bei dem gleichen Autor noch im November 2020: „Russland erhält gewissermaßen neue Außengrenzen, die es vor einem potentiellen Aggressor zu schützen gilt“11

Die Autoren nennen ja selber u. a. den Grund für die „anhaltende Militarisierung“ Russlands im arktisch-nordatlantischen Raum: „Die zusehends eisfreie Arktis weckt in Russland . . . Sorgen, dass russisches Territorium im Norden auf neuartige Weise verwundbar werden könnte.“12 Soll heute „aggressiv“ sein, was gestern gerade noch „defensiv“ war?

Das vermeintliche Bedrohungs- und Eskalationspotential wird hier bewusst aufgebauscht, um der deutschen Öffentlichkeit vor allem die Unabdingbarkeit amerikanischer Präsenz in Europa zu suggerieren. „Auf absehbare Zeit bedarf es dazu weiterhin der Fähigkeiten und der Präsenz der amerikanischen Streitkräfte“ (S. 44). Die Autoren übernehmen heute entweder kritiklos oder bewusst die NATO-Position und heizen zusätzlich eine antirussische Stimmung an. Sind sie Politikberater im Dienst der Bundesregierung oder NATO-Claqueure? Bei der NATO heißt es nämlich: Russlands Militarisierung seiner Nordgrenze sei eine „Bedrohung“ für den arktisch-nordatlantischen Raum, wogegen sich die NATO positionieren werde. Die Arktis-Strategie wurde sodann auch beim NATO- Gipfel im Juni 2021 erörtert und Dänemarks Ministerpräsidentin Mette Frederiksen erklärte unumwunden zur gleichen Zeit bei einem Besuch von US-Außenminister Antony Blinken in Kopenhagen: Man wolle durchsetzen, „dass das dänische Königreich, die Vereinigten Staaten und die NATO die entscheidende Rolle in der Arktis spielen – und nicht andere.“13 Wer ist also hier „aggressiv“ und „militant“: Russland oder die NATO?

„Aus russischer Sicht“- meinen die Autoren – „sind die Seeverbindungslinien, die im arktisch- nordatlantischen Raum verlaufen, nicht nur wesentlich zur Versorgung der eigenen Häfen. Sie gelten auch als potentielle Verkehrs- und Transportwege einer künftigen maritimen Seidenstraße“. Russland sieht hier „die Chance, sich geostrategisch aus einer Position am Rande Europas und Asiens in die Position einer handelspolitischen Drehscheibe im Zentrum Eurasiens zu wechseln und damit seineRolle als weltpolitischer Akteur aufzuwerten“ (S. 42).

Russland hat in der Tat eine lange Tradition bei der „systematischen Ausbeutung“ der Arktis14. Richtig an der Aussage ist auch Russlands Positionierung als „globaler Norden“ (мировой Север) – um Dmitrij Trenins Terminologie aus seinem neuen Werk zu gebrauchen15. Will man aber tatsächlich die „russische Sicht“ auf die Arktis erfahren, dann empfehlen sich zwei Artikel von Dmitrij Trenin und Natal ́ja Asarova zur Lektüre16. Was die Verfasser uns hingegen vermitteln wollen, ist die US-amerikanische und nicht die „russische Sicht“ auf die russische Arktis-Strategie.

Vor allem die Amerikaner Eugene Rumer, Richard Sokolsky und Paul Stronski haben sich deutlich mit ihrer Stellungnahme zu Russlands Arktis-Strategie exponiert. In Ihrer gemeinsamen, am 29. März 2021 veröffentlichten und vom Carnegie Moscow Center ins Russische am 21. Mai 202117 übertragenen umfangreichen Studie „Russia in the Arctic – A Critical Examination“ stellen sie gleich zu Beginn die Grundannahme ihrer Analyse voran, die im Einklang mit unseren SWP-Autoren steht: „Diegegenwärtige Politik Russlands in der Arktis sei der integrale Bestandteil seiner umfassenden Konfrontation mit dem Westen (integral to is overall confrontation with the West), deren Hauptschauplatz Europa sei. Der Drohrhetorik und dem Säbelrasseln in der Arktis liegen folgende Faktoren zugrunde: Die Vorbereitung zu einem zwar unwahrscheinlichen, aber potentiell katastrophalen Krieg in Europa; die Notwendigkeit einer sicheren Gewährleistung der nuklearen Zweitschlagfähigkeit (second-strike nuclear) und schließlich die Ressourcensuche zwecks einer vermeintlichen Politik von >guns and butter< sowie der Großmachtambitionen und Interessen der mächtigen bürokratischen und ökonomischen Eliten“.

Worauf stützt sich diese Grundannahme? Wie ernst sollte man die russischen Großmachtambitionen nehmen und welche Folgen haben sie für die NATO und die USA? Trotz der „Drohrhetorik“ verhalte sich Russland laut Rumer/Sokolsky/Stronski im völkerrechtlichen Rahmen und halte alle eingegangenen Verpflichtungen und unterschriebenen Verträge. Mit seinen „aggressiven Ankündigungen und weitergehenden territorialen Ansprüchen“ fördere Russland aber keineswegs eine Verbesserung der diplomatischen Beziehungen mit den anderen arktischen Anrainerstaaten und bringen sie sogar gegen sich. Gegen diese „aggressive“ Vorgehensweise Russlands und unter Berücksichtigung der langjährigen Konfrontation zwischen Russland und dem Westen helfe laut der Studie nur zweierlei: Diplomatie und Abschreckung („deterrence“).

Worauf stützt sich nun der Vorwurf der „Aggressivität“ an die Adresse Russlands? Allein auf die wachsenden Großmachtambitionen Russlands in der Arktis, welche die arktischen Staaten beunruhigen? Sie rechtfertigen aber solchen schwerwiegenden Vorwurf ebenso wenig, wie die triviale Feststellung der Studie, dass Europa schon immer im Fokus der russischen Geostrategie war: „For Russia, arctic strategy is integral to european strategy“.

Zwar bezweifeln die Autoren zum einen, dass die russischen Großmachtambitionen in der Arktis allein schon aus wirtschaftlichen Gründen zu realisieren seien und äußern zum anderen sogar Verständnis dafür, dass das Ostseegebiet Russland große sicherheitspolitische Probleme bereiten kann, weil dessen Nähe zur russischen militärischen Infrastruktur es für die NATO-Präzisionswaffen verwundbar macht. Zugleich aber beteuert die Studie, dass erst „die aggressive Politik Russlands in der Arktis die NATO zu Maßnahmen provozierte, die sich in der Krisensituation gegen Russland wenden und seine Sicherheit bedrohen kann“.

Immerhin gestehen die Autoren ein, dass die gegenseitigen Beschuldigungen, Drohungen und Warnungen zu einer selbsterfüllten Prophezeiung zu werden drohen. Am Ende ihrer Ausführungen empfehlen sie Russlands Arktis-Strategie realistisch einzuschätzen: „Wie verlockend es sein mag, die Arktis durch das Prisma der Großmächtekonkurrenz zu betrachten, was durchaus den russischen Vorstellungen entspricht, kaum etwas deutet darauf hin, dass Moskaus militärische Vorgehensweise in der Arktis eine fundamental neue Strategie ist. Sie bedeutet vielmehr die Rückkehr zu den Zeiten des Cold War . . . Russland hat allerdings heute viel weniger Ressourcen, wohingegen seine Gegner viel größere Kapazitäten than during the Cold War“ haben. Recht haben die amerikanischen Analysten.

Was folgt nun aus all dem Gesagten? Lebt der Kalte Krieg weiter oder denken wir „lediglich“ im „Geiste“ des Kalten Krieges? Schürt man deswegen die Angst vor der „russischen Gefahr“?

Der „Geist“ des Kalten Krieges weht heute nach wie vor, wo er will, auch in der Arktis und auch in den veröffentlichen Beiträgen der SWP-Studie. Im Schlepptau dieses „Geistes“ kann die westliche bzw. deutsche Russlandpolitik letztendlich nur in eine Sackgasse führen.

4. Perspektivlose Russlandberatung

Gleich zu Beginn ihres Beitrages „Schwieriges Verhältnis zu Moskau“18 widersetzt Sabine Fischer sich dem programmatischen Titel der SWP-Studie „Deutsche Außenpolitik im Wandel“. Es könne keinen „Wandel“ in der deutschen Russlandpolitik geben. „Deutschland braucht keine grundlegend neue Russlandpolitik“ (S. 45). Die „Realität der russischen Innen- und Außenpolitik“ müsse lediglich „stärker“ beachtet werden. Unter der vielsagenden Überschrift „Russische Realität“ glaubt sie „drei Trends“ identifiziert zu haben, welche „die Entwicklung der russischen Politik (prägen)“:

(1) Putins Russland sei in den vergangenen zwanzig Jahren „autokratischer geworden“. „Die Autokratisierung des politischen Systems“ schreitet bei der gleichzeitigen „Ablehnung von liberaler Demokratie und Weltordnung“ voran.

(2) Als Großmacht erhebe Russland den Anspruch, in einer multipolaren Welt „gleichauf mit Großmächten wie den USA und China“ zu agieren.

(3) Als „Antwort auf westliche Einflussnahme in Russland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion“ nutze Russland „die Schwachstellen westlicher Demokratien, um diese zu unterminieren“. Diesen Trend sollten „westliche Demokratien . . . im Kontext der sich verschärfenden globalen Systemkonkurrenz verstehen“.

Fischer betrachtet also die „russische Realität“ verfassungspolitisch („Autokratisierung im Innern“), axiologisch (Ablehnung liberaler Demokratie bei gleichzeitiger Abwehr westlicher Einflüsse) und geopolitisch („Konfrontation mit dem Westen“ zwecks „der Legitimation im Innern“).

Diese Bewertung der russischen Gegenwart hält beim näheren Hinsehen weder methodisch noch verfassungspolitisch, weder axiologisch noch geopolitisch der Realität stand.

Alle benutzten Begriffe werden nicht näher erläutert, sondern als bekannt vorausgesetzt. Man hätte von der Verfasserin gerne wissen wollen, was sich hinter den Schlagworten „Autokratisierung“, „liberale Demokratie“, „Weltordnung“ oder „Systemkonkurrenz“ verbirgt. Soll der Neologismus „Autokratisierung“ etwa auf Russlands Rückkehr zur Verfassungsordnung des Russischen Reiches, die vor gut hundert Jahren untergegangen ist, hinweisen oder deutet er auf eine Tendenz dahin, oder istder Ausdruck eine neue Variante des sogenannten „Autoritarismus“? Russische Autokratie war eine Herrschaftsverfassung von Gottesgnadentum und als solche religiös fundiert. Sie steht in einem fundamentalen Widerspruch zur russischen Verfassungsform und Verfassungswirklichkeit der Gegenwart.

Soll die „Autokratisierung“ also auf einen zunehmenden religiösen Einfluss im russischen Verfassungsleben hindeuten? Wohl kaum! Das Herumjonglieren mit derartigen undefinierten Schlagwörtern deutet vielmehr auf eine ideologisierte Vorgehensweise bei der Betrachtung der „russischen Realität“. Fischers Gebrauch des Begriffs ist offenkundig ideologisch konnotiert. Sie verwendet den Begriff nicht zur verfassungspolitischen Erkenntnisgewinnung, sondern offenkundig zur Denunzierung der russischen Verfassungswirklichkeit, wodurch die „russische Realität“ nicht so sehr verstanden als vielmehr verunklart bzw. vernebelt wird. Das ist eine methodische Vorgehensweise, welche die komplizierte Verfassungsrealität eher verkennt als erkennt, eher karikiert als klarstellt.

Auch der Versuch, die russische Verfassungsrealität aus der Perspektive der westlichen Verfassungstradition beurteilen zu wollen, ist zwar eine übliche, aber verfehlte Methode der Russlandforschung. Daran hat sich schon die Sowjetologie die Zähne ausgebissen. Zudem ist völlig unklar, was Fischer unter einer „liberalen Demokratie“ versteht, zumal der Begriff längst zu einem geopolitischen Kampfbegriff geworden ist.

Liberalität und Demokratie sind – verfassungshistorisch (aber auch demokratietheoretisch) gesehen – unversöhnliche Gegensätze. Auch wenn man im Alltag davon Gebrauch macht, bedeutet das noch lange nicht, dass man den Ausdruck „liberale Demokratie“ auch in einer politikwissenschaftlichen Reflexion sorglos und kritiklos gebrauchen kann. Was die russische Verfassungsrealität vermissen lässt, ist allerdings etwas ganz anderes. Russland fehlt ein im Sinne der westlichen Verfassungstradition ausgebildeter Rechts- und Verfassungsstaat, und zwar nicht erst seit Putins Regentschaft.

Unklar ist aber auch, was Fischer unter „Weltordnung“ und „Systemkonkurrenz“ versteht. Weltordnung ist ein sehr komplexer Begriff und „Systemkonkurrenz“ ein ideologischer Begriff der bipolaren Welt des Kalten Krieges, womit man heutzutage die geopolitische und geoökonomische Konkurrenz camoufliert und wodurch man die geopolitische Großmächterivalität zu verklären versucht.

Nun beteuert Fischer, Russland unterminiere westliche Demokratien und nütze deren Schwachstellen, um u. a. „westliche Einflüsse abzuwehren“ (Gilt der Vorwurf nicht in die umgekehrte Richtung?), ohne es nötig zu haben, diese schwerwiegende Anschuldigung an die Adresse der russischen Regierung zu begründen. Offenbar reicht es heute aus, Beweise durch Behauptungen zu substituieren. Das gehört neuerdings zum „guten Ton“.

Auch die Einmischung des Westens in die russische Innenpolitik verklärt Fischer als legitime „westliche Einflüsse“, welche Putins „Autokratie“ abzuwehren sucht. Wo liegt das Problem? Empört sich der Westen nicht seinerseits stets darüber, dass Putin sich „erdreist“, sich in die innerwestlichen Angelegenheiten einzumischen? Nein, mit einer solchen ideologisierten Vorgehensweise kann man beim besten Willen keine „russische Realität“ verstehen, um daraus irgendwelche Schlussfolgerungen für die westliche bzw. deutsche Außenpolitik ziehen zu können. Kein Wunder, dass Fischer – wie eingangs zitiert – keinen Veränderungsbedarf in der deutschen Russlandpolitik sieht, da sie sich offenbar ihres eigenen ideologischen Vorverständnisses bei der Bewertung der „russischen Realität“ gar nicht bewusst ist.

Nun wirft Fischer der deutschen Russlandpolitik vor, sie lasse sich „weiterhin von Grundannahmen leiten, die mit der Realität im Verhältnis zu Russland immer weniger in Einklang zu bringen ist“. Womit begründet sie ihren Vorwurf? Es sei – so Fischer – nach wie vor die Überzeugung verbreitet, dass ökonomische Verflechtung u. a. auch Russlands politisches System positiv verändern könne. Wer dieser Überzeugung sei, bleibt Fischer einer Antwort schuldig. Dasselbe gelte für die Hoffnung, Moskau ließe sich durch Dialog zu konzilianteren Positionen bewegen. Wer so naiv sein könne, bleibt ebenfalls das Geheimnis von Sabine Fischer. Diese sog. „Grundannahmen“ solle die nächste Bundesregierung revidieren. Und wie? Ganz einfach! Zum einen müsse der „gesellschaftliche Austausch . . . Priorität der deutschen Russlandpolitik bleiben“, auch wenn „Autokratisierung und Pandemie . . . den Spielraum dafür drastisch schrumpfen lassen (haben)“ (S. 47). Zum anderen müsse „die nächste Bundesregierung ihr Handeln noch stärker an der politischen Realität in Russland ausrichten. Einer entsprechenden Abstimmung innerhalb der EU und im westlichen Bündnis kommt oberste Priorität zu“ (S. 48).

Mit solchen Ratschlägen ist heute außenpolitisch kein Blumentopf zu gewinnen. Wer darauf eine deutsche Russlandpolitik aufbaut, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

5. „Geopolitisierung“ der EU-Außenpolitik: Realität oder Fiktion?

Den originellsten Beitrag haben Markus Kaim und Ronja Kempin mit ihrer Analyse der europäischen Sicherheitsordnung in einem veränderten geopolitischen Umfeld geschrieben.19 Ausgehend von der Großmächterivalität und – damit eng verbunden – einer eingetretenen „>Geopolitisierung< des außenpolitischen Handels“, welche einer sicherheitspolitischen Ordnung, „wie sie 1990 mit der Charta von Paris begründet werden sollte“, zuwiderläuft (S. 115), verlangen sie vor dem Hintergrund einesschwindenden Einflusses der EU und der „neuartigen sicherheitspolitischen Herausforderungen“ nach einer „Außenpolitik unter geopolitischen Vorzeichen“ (S. 116).

Was verstehen die Verfasser aber unter einer „Geopolitisierung“ der Außenpolitik und wie soll die EU- bzw. deutsche Außenpolitik unter diesen „geopolitischen Vorzeichen“ agieren? Die Antwort ist beachtenswert. Kaim und Kempin plädieren nämlich – was durch und durch begrüßenswert wäre – nicht mehr und nicht weniger als für einen radikalen Paradigmenwechsel in der westlichen bzw. EU- Außenpolitik: Die Ausrichtung einer machtvollen EU-Außenpolitik „hätte nicht zuletzt eine normative Dimension: >Recht< und >Macht< statt >Werte< und >Recht< wären dann handlungsleitende Kategorien“, um „Einfluss“ auf die europäischen Nachbarn zu nehmen bzw. „die Politik anderer Akteure zurückzudrängen“ (S. 116).

An Stelle einer ideologisch bzw. axiologisch geleiteten Außenpolitik, welche die „westlichen Werte“ von Demokratie und Menschenrechten bisher als Popanz vor sich hertrug, sollen also die sich um „Raum“ und „Macht“ zentrierten geopolitischen Erwägungen treten und im Vordergrund der EU- Außenpolitik stehen, denen die Verfasser gar „eine normative Dimension“ zuschreiben. Diese „Geopolitisierung“ der Außenpolitik solle im Zeitalter der Großmächterivalität „primär“ dazu dienen, den Einfluss der gegnerischen Großmächte vom europäischen Raum zurückzudrängen. Mit anderen Worten: Geopolitik statt Axiologie, >Raum und Macht< statt >Werte und Recht<, geopolitische statt axiologischer Normativität.

Bemerkenswert ist hier nicht nur und nicht so sehr, dass die Autoren einen solchen radikalen Paradigmenwechsel der EU-Außenpolitik propagieren. Bemerkenswert ist vielmehr auch und vor allem ein aufgestelltes Normativitätspostulat, das den geopolitischen Kategorien von Raum und Macht einen Normativitätscharakter zuspricht. Geopolitik hat in der Tat ihre eigengesetzliche Normativität, die Werte und Recht transzendiert. Sie beruht ihrem Selbstverständnis nach auf zwei Voraussetzungen: der Macht des Faktischen und der Faktizität der Macht. Die eine besagt: Was bisher galt, gilt solange fort, bis es gerändert wird, d. h. das Faktische sei das zu Recht Bestehende, wohingegen die andere lautet: Was sich mit den Mitteln der Macht nicht durchsetzen lässt, gilt nicht als Norm und wer sich nicht gegen die Widerstände zu behaupten vermag, verliert nicht nur seine Autorität, sondern auch seine geopolitische Existenz.

Wie wollen nun Kaim und Kempin diese geopolitische Normativität vor dem Hintergrund der traditionell ideologisch bzw. axiologisch geleiteten EU-Außenpolitik durchsetzen? Was schlagen sie vor? Gar nichts! Zum einen machen sie von ihrem eigenen Distinguieren zwischen einer geopolitischen und einer axiologischen Normativität keinen Gebrauch und bleiben letztlich dem traditionellen Verständnis von einer werteorientierten Außenpolitik verhaftet. Zum anderen verstehen sie die„Geopolitisierung“ der EU-Außenpolitik reduktionistisch, nämlich als eine aktive Abwehrhaltung gegen das Vordringen der raumfremden Mächte in den europäischen Raum. Sie sind dabei – wie die anderen SWP-Kollegen – der Auffassung, dass es im deutschen Interesse sei, „wenn die USA eine europäische Macht bleiben“ (S. 118).

Nichts Neues unter der außenpolitischen Sonne der EU-Denkfabriken! Es bleibt alles beim Alten, wie es sich gehört. Vom „Wandel“ in der deutschen und EU-europäischen Außen- und Russlandpolitik ist weit und breit keine Spur zu sehen.

Anmerkungen

1 Maihold, G./Mair, S./Müller, M./Vorrath, J./Wagner, Ch. (Hg), Deutsche Außenpolitik im Wandel. Unstete Bedingungen, neue Impulse. SWP-Studie 15, September 2021, Berlin.
2 Näheres dazu Silnizki, M., George F. Kennans „Amerika und Russlands Zukunft“. Russlandbild im Lichte der ideologischen Konfrontation des „Kalten Krieges“. 4.10.2021.
3 Meister, S., Pragmatische Russlandpolitik, DGAP Memo Nr. 4. September 2021.
4 Mann, G., Wenn der Westen will, in: Neue Rundschau 75 (1964), 592-610 (600).
5 Lippert, B., Zeit für Diplomatie: Das Modell eines neuen Mächtekonzerts als Stichwortgeber fürDeutschland. SWP-Studie 15 (2021), 13-16.
6 Näheres dazu Silnizki, M., Anti-Moderne. US-Welthegemonie auf Abwegen. Berlin 2021, 94 ff.
7 Dazu Silnizki, M., Richard Nixon und die moderne Außenpolitik. Zur Aktualität der Entspannungspolitik der1970er-Jahre. 20. September 2021.
8 Loth, W., Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955. München 1980, 63 FN 16.
9 Paul, M./Swistek, G., Maritime Wahl: Indo-pazifische versus arktisch-nordatlantische Prioritäten. SWP-Studie 15 (2021), 41-44.
10 Paul, M., Die neue Arktisstrategie der EU. SWP-Aktuell 2021/A 14, 16.02.2021.
11 Kluge, J./Paul, M., Russlands Arktis-Strategie bis 2035. SWP-Aktuell 2020/A 89, 5.11.2020.
12 Kluge/Paul (wie Anm. 11).
13 Strittmatter, K., Destination Arktis. sueddeutsche.de 17.052021; zitiert nach „Die Militarisierung derArktis“, german-foreign-policy, 20. Mai 2021.
14 Näheres dazu Angele, Arktische Visionen: Die sowjetische Expansion nach Westen, Russland-Analysen Nr.405, 31.07.2021, 2-6.
15 Тренин, Д., Новый Баланс Сил. Россия в поисках внешнеполитического равновесия. Москва 2021;dazu Buchbesprechung: Silnizki, M., Neue Machtbalance. Stellungnahme zu einem Desiderat. 7 September 2021.
16 Дмитрий Тренин, Россия и Китай в Арктике: сотрудничество, соперничество и последствия дляевразийской безопасности, Московский центр Карниги, 31.03.2020; Наталья Азарова, Соперничество у полюса. Как развиваются отношения Китая, России и США в Антарктике, Московский центр Карнеги, 23.06.2021.
17 Eugene Rumer/ Richard Sokolsky/Paul Stronski, Россия в Арктике: критический взгляд из США, Московский центр Карнеги, 21.05.2021.
18 Fischer, S., Schwieriges Verhältnis zu Moskau. Deutsche Russlandpolitik muss weiter justiert werden. SWP- Studie 15 (2021), 45-48.
19 Kaim, M./Kempin, R., Die europäische Sicherheitsordnung in einer geopolitischen Welt. SWP-Studie 15 (2021), 115-118.

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