Verlag OntoPrax Berlin

Russlands Dilemma, EU-Ohnmacht und die USA

Zu den bevorstehenden russisch-amerikanischen Verhandlungen

(Noch) unwillig zum Angriff, aber machtvoll in der Verteidigung kehrt Russland dreißig Jahre nach dem Untergang der Sowjetunion auf die geopolitische Weltbühne zurück, meldet unmissverständlich seine sicherheitspolitischen Ansprüche an und fordert damit den US-Hegemon heraus. Worum geht es Russland? Allein um die Sicherheit oder um etwas ganz anderes? Mit dem wiederholten Verweis auf Putins Äußerung: Die Sowjetunion sei „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ suggerieren manche „Russlandexperten“ der breiten Öffentlichkeit, dass „Putins Russland“ eine restaurative bzw. revisionistische Politik betreibe und die Wiederherstellung des Sowjetreiches verfolge.

Dieser Suggestion fehlt jedoch jegliche geopolitische Substanz. Zum einen unterschlagen sie eine andere, von Putin bereits 2010 ebenfalls vertretene Auffassung: „Wer den Untergang der UdSSR nicht bedauert, hat kein Herz. Wer aber die UdSSR wiederherstellen will, hat keinen Verstand.“ Zum anderen würde sich Russland national- und geoökonomisch übernehmen, würde es das imperiale Abenteuer anstreben wollen. Die Wiederherstellung des Imperiums in den Grenzen des untergegangenen Sowjetreiches wäre zum dritten allein schon deswegen unmöglich, weil im postsowjetischen Raum der Nationalismus jeder Couleur gedeiht und floriert. Nachdem der Geist des Nationalismus aus der postsowjetischen „Büchse der Pandora“ entwichen war, ist es heute praktisch unmöglich, diesen Geist zurück in die „Büchse“ zu zwingen, es sei denn mit brutalster Gewalt.

Worum geht es dann Russland? Geht es ihm um die Überwindung der nach dem Untergang des Sowjetsystems entstandenen US-Hegemonialordnung oder um die Schaffung eines neuen Equilibriums, eines globalen Mächtegleichgewichts bzw. einer multipolaren Weltordnung? Oder ist Russland vielleicht „nur“ um eine weitere Expansion der NATO besorgt? Die Sorge um eine solche Expansion vor allem in der Ukraine, aber auch in den anderen Teilen des postsowjetischen Raumes prägt heute maßgeblich die russische Europa- bzw. Westpolitik.

Das Ziel ist die seit fünfundzwanzig Jahren fortdauernde Expansion der NATO bzw. der USA und das dadurch entstandene Kräfteungleichgewicht im europäischen Raum zu Lasten Russlands sicherheits- bzw. geopolitisch zu beseitigen. Zur Wiederherstellung des geopolitischen Gleichgewichts so, wie Russland es sieht, ist es in Anbetracht der Erstarkung der eigenen militärischen Potenz – wenn nicht zu allem, so doch – zu vielem bereit und fähig, erst recht, wenn es um die Ukraine geht. Die Frage ist nur, ob diese militärische Macht allein ohne die (geo)ökonomische ausreichen würde, um eine Konfrontation mit dem Westen zu riskieren bzw. auf die Spitze zu treiben, und ob der Westen gewillt und in der Lage ist, sich machtvoll dieser Konfrontation zu stellen.

Die Frage kann nur mit Jain beantwortet werden. Einerseits spricht der Westen sicherheits- und bündnispolitisch mit einer Zunge. In dem Augenblick aber, in dem es im Falle des Falles zu den „härtesten Sanktionen“ gegen Russland – wie manche Scharfmacher fordern – kommen sollte, könnte diese westliche Einheitsfront allein schon deswegen zerbrechen, weil der sog. „Westen“ dann ökonomisch ungleich stark in Mitleidenschaft gezogen würde. Vor allem die Europäer würden dann ökonomisch hart getroffen, sollte ein regelrechter Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen vom Zaun gebrochen werden, wohingegen die USA – weil geoökonomisch relativ unabhängig – von einem solchen Wirtschaftskrieg kaum oder nur indirekt betroffen würden.

Andererseits befindet sich Russland im Falle der Zuspitzung der Ukraine-Krise in einem doppelten Dilemma:

(1) Russland kann aus seiner Sicht den sicherheitspolitischen Status quo in Europa nicht mehr tolerieren, weil dann die reale Gefahr der weiteren NATO-Expansion bestünde, wodurch Russland sicherheitspolitisch unter Druck geraten würde und geopolitisch tendenziell noch mehr erpressbar wäre. Sollte Russland aber den bestehenden Status quo durchbrechen, indem es die Ukraine militärisch angreifen und anschließend besetzen würde, so könnte es sich ökonomisch einfach nicht leisten, die Ukraine allein schon vor dem Hintergrund des heruntergewirtschafteten Landes zu alimentieren, zumal die ukrainische Machtelite und der große Bevölkerungsteil mittlerweile Russland gegenüber feindselig gesinnt sind.

(2) Sollte Russland sich militärisch in der Ukraine selbst nur punktuell engagieren, würde es einerseits ein hohes geoökonomisches Risiko eingehen, indem es in einem geo-bellizistischen1

Konflikt mit den USA verwickelt würde und zudem noch Sanktionen der Europäer zu befürchten hätte. Andererseits würde Russland, sollte es seine militärische Abstinenz weiterhin aufrechterhalten, sicherheitspolitisch an Boden verlieren – und zwar in alle Richtungen sowohl gegenüber dem Westen als auch gegenüber China – und sich dadurch geopolitisch weiter schwächen.

In diesem doppelten Dilemma steckend, muss sich Russland für das kleinere Übel entscheiden. Welches sollte es denn aus russischer Sicht sein? Wenn man Putins Äußerung Glauben schenken will, dass nämlich Russland keine andere Wahl habe, als so zu handeln, wie es handele, und darüber hinaus von der Konstante der russischen Außenpolitik ausgeht, für welche die Geo- bzw. Sicherheitspolitik den absoluten Vorrang vor jedweden ökonomischen Überlegungen hat, dann wird die russische Führung im Zweifel sicherheitspolitisch gegen den bestehenden Status quo entscheiden. In diesem Falle wird es eine geoökonomische Konfrontation in Permanenz in Kauf nehmen.

Auch die USA geraten in ein Dilemma: Würde die Biden-Administration auf die russischen sicherheitspolitischen Forderungen eingehen wollen, so könnte sie schnell unter die Räder geraten, falls sie sich ohne Rücksicht auf Verluste auf einen Kompromiss einigen und dabei einen Sturm der Entrüstung seitens der NATO-Partner und insbesondere seitens der US-amerikanischen Innenpolitik, die jedweden Kompromiss mit Russland ablehnt, auslösen würde.

Würde aber die Biden-Administration die Zuspitzung der Lage in Kauf nehmen, würden die Karten neu gemischt. Denn würde sie statt eines Zugeständnisses an Russland auf den Status quo beharren oder sich gar für eine Verschärfung der Konfrontation entscheiden, so wäre eine militärische Aktion seitens Russlands in welcher Form auch immer unausweichlich. Beschlösse der Westen als Reaktion darauf die verschärften Sanktionen oder lasse sich sogar zu einem umfassenden und unlimitierten Wirtschaftskrieg hinreißen, dann würde die russische Führung darauf ebenfalls mit umfassenden Sanktionen womöglich bis zur Unterbrechung der Energieversorgung reagieren. Alle Kontrahenten würden zwar daran Schaden nehmen. Die EU-Europäer würden aber am meisten in Mitleidenschaft gezogen.

Der eigentliche Gewinner würden dann die USA sein, und zwar in beide Richtungen: (1) Sie würden Europa (geo)ökonomisch schwächen, indem sie auf die harten Sanktionen gegen Russland beharren würden. (2) Sie stärkten dabei ihre eigene ökonomische Potenz. (3) Die USA würden für die Europäer sicherheitspolitisch noch wichtiger und umso bedeutsamer sein, je mehr die Angst vor der „russischen Gefahr“ geschürt würde. (4) Die Europäer würden von den USA geostrategisch noch mehr abhängig sein und dadurch noch enger an die Pax Americana gebunden. Damit würden die USA gegenüber Europa einen dreifachen Effekt erzielen: einen geoökonomischen, sicherheitspolitischen und geostrategischen. Mehr noch: Die USA würden dann nicht so sehr Russland von Europa, als vielmehr umgekehrt Europa von Russland isolieren, wodurch sie vor allem Deutschland treffen würden, da es energiepolitisch und volkswirtschaftlich am härtesten getroffen würde. Auf jedem Falle profitieren die USA innerhalb der westlichen Allianz am meisten und zu Lasten Europas (insbes. Deutschlands). Das würde aber bedeuten, dass der mögliche Wirtschaftskrieg gegen Russland vor allem dem europäischen Teil des Westens, am wenigstens aber den USA, schaden würde.

Jetzt rächt sich auch, dass Frankreich und Deutschland – statt die Ukraine zusammen mit Russland im Rahmen des Normandie-Formats im Sinne des Minsker Abkommens zu friedlicher Einigung zu zwingen – die Verhandlungen bewusst verschleppt, die Ukraine wider besseres Wissen gegen Russland bedingungslos unterstützt und dadurch jeden Einfluss auf die Gestaltung der russisch-ukrainischen Beziehungen verloren haben. Diese seit nunmehr acht Jahren stattfindenden taktischen Winkelzüge Frankreichs und Deutschlands weisen zum wiederholten Mal auf das fehlende geostrategische Denken der EU-Europäer hin, die nicht verstehen wollen oder können, dass die USA nicht nur ein strategischer Partner, sondern genauso, wie Russland und China, ein geostrategischer Konkurrent sind. Mehr noch: Nach dem Motto: Taktisch gewonnen, strategisch verloren, haben die EU-Europäern sich die Chance verbaut, an den am 9./10. Januar 2022 stattfindenden Verhandlungen über Sicherheitsgarantien zwischen Russland und den USA teilnehmen zu können. Da kann der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell die EU-Teilnahme fordern, soviel er will: Weder Russland noch die USA wollen das.

Die Zeiten des bloßen taktischen Geplänkels sind vorbei. Die EU-Europäer haben sich taktisch verkalkuliert und sich strategisch in die Brennnessel gesetzt. Wenn es um Krieg und Frieden geht,

bleiben die Atommächte wie zurzeit des Kalten Krieges lieber unter sich. Die EU-Europäer dürfen aber selbstverschuldet auf der Zuschauertribüne sitzen bleiben und einflusslos und schicksalergeben auf die Entscheidung der Mächtigen warten. Es hätte auch anders sein können!

Anmerkung

1. Zum Begriff Geo-Bellizismus siehe Silnizki, M., Geo-Bellizismus. Über den geoökonomischen Bellizismus der USA. 25. Oktober 2021 (www.ontopraxiologie.de).

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