Verlag OntoPrax Berlin

Russlands neue Ideologie?

Stellungnahme zur „Ideologie der russischen Staatlichkeit

Übersicht

1. „Ideologie“ als Apologie des Faktischen
2. Macht und Ideologie
3. Macht und Recht
4. Russisches Staatsverständnis
(a) Gosudarstvo und Gosudar´
(b) Gosudarstvo als zentralgesteuerte Raummacht
5. Narodovlastije versus Demokratie 

Anmerkungen 

Etiam diabolus audiatur (Selbst der Teufel
hat das Recht, gehört zu werden).

1. „Ideologie“ als Apologie des Faktischen
Es ist schon bemerkenswert, erneut erleben zu können, wie ein konservative Teil der russischen Gesellschaft – der russischen Herrschaftstradition verpflichtet – die Geschichte und Gegenwart Russlands beurteilt, ohne dabei das eigene etatistisch zentrierte Denken reflektieren zu können. Unter dem Titel „Ideologie der russischen Staatlichkeit“1 erschien ein Werk, das ein beredtes Zeugnis darüber ablegt. Die Tatsache, dass es innerhalb eines Jahres bereits in der zweiten Auflage erscheint, zeigt, wie intensiv sich viele Russen in ihrer Suche nach der eigenen Identität mit der russischen Vergangenheit und Gegenwart befassen und wie sehr sie in ihrer Abwehr gegen den liberal-demokratischen Westen nach der eigenen Staatsideologie trachten.

Die Verfasser der „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ – Timofej Sergejcev, Dmitrij Kulikov und Petr Mostovoj – sind durch und durch die treuesten Anhänger der russischen Staatsführung und des russischen politischen Establishments. Als ein bekannter und einflussreicher Fernsehmoderator und Talkmaster ragt unter ihnen Dmitrij Kulikov mit seinem dezidiert etatistischen Politikverständnis hervor. Was die Autoren uns mit ihrem Werk präsentieren, ist eine Art volkstümliche „Geschichtsphilosophie“ des russischen Staates, sozusagen eine „Philosophie“ für das Volk. Darum charakterisieren sie auch die Geschichte als „kollektives Gedächtnis des Volkes“. „Im gewissen Sinne“ – heben sie dabei mit Nachdruck hervor – sei „diese lebendige Geschichte eben das Volk selbst“ (история – это коллективная память народа. В определённом смысле живая история – это и есть сам народ). Vor so viel „Lebendigem“ warnte einst Mephisto seinen Schüler, indem er spöttisch anmerkte:

„Wer will was Lebendiges erkennen und beschreiben,
sucht erst den Geist herauszutreiben,
dann hat er die Teile in seiner Hand,
fehlt, leider, nur das geistige Band.“
(Faust 1, Studierzimmer, Mephisto zum Schüler).

Dieses „geistige Band“ fehlt eben der „lebendigen Geschichte“ unserer Autoren. Das Werk stellt sich als eine zusammenhangslose Aneinanderreihung von unreflektierten Gedanken und undefinierter Begrifflichkeit dar. Es weist zudem auf die fehlenden Kenntnisse der russischen Rechts- und

Verfassungsgeschichte, ohne die jedes Verständnis von der russischen Staatlichkeit undenkbar ist, von deren Vergleich mit westlichen Verfassungsentwicklungen ganz zu schweigen. Statt Aufklärung wird hier Verklärung praktiziert, statt Erkenntnisse ein „lebendiges Wissen“ angeboten, das die historische und gegenwärtige Entwicklung der russischen Staatlichkeit nach der Devise verteidigt: Russland legitimiere sich selbst allein kraft seiner faktischen Existenz. Ideologie als Apologie des Faktischen.

Wenn also die Faktizität ein ausreichender Grund der Selbstlegitimation ist, von welcher Ideologie kann dann überhaupt die Rede sein?

„Ideologie“ bedeute – so die Verfasser – „ein sicheres, detailliertes Gedächtnis über Siege und Niederlagen, Kenntnis ihrer Gründe und Umstände, das Verständnis von Gesetzmäßigen und Zufälligen . . . Sie beschränkt sich nicht allein auf das Bekannte und Vorgegebene, sonst wird sie das Schicksal der Sowjetideologie erleiden. Diese hat deswegen schlechte Dienste erwiesen, weil die Kommunisten die Ideologie kraft ihres Machtmonopols dogmatisiert und in einen säkularen Glauben ohne Gott verwandelt haben . . . Ein Ideologe befindet sich hingegen immer in Aktion an der Schwelle zwischen Wissen und Glauben (Идеолог работает в ситуации действия на границе знания и веры) und seine Aufgabe ist den Handelnden mit allem zur Verfügung stehenden Wissen im Bewusstsein dessen zu versorgen, dass dieses Wissen umstritten und unvollständig ist.“

Soll „Ideologie“ also weder Wissen noch Glauben, zugleich aber sowohl Wissen als auch Glauben sein? Oder wird sie hier als eine Art Handlungsanweisung, eine „lebendige“, „dogmenfreie“ Führerin der Politik in der Welt voller Gefahren und Entbehrungen verstanden? Wohl kaum! Die „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ erweist sich vielmehr als eine Apologie der bestehenden russischen Verfassungswirklichkeit. Denn die „Ideologie“ sei „in erster Linie dazu aufgerufen, Politik und Krieg und überhaupt jede soziale Strategie zu untermauern . . . Ideologie ist Wissen, worauf wir uns trotz ihrer Unzulänglichkeit stützen und ohne welche das Überleben und die Regierbarkeit eines sozialen Organismus ebenso wie eines einzelnen Menschen prinzipiell unmöglich ist.“ Hinter dieser Geistesakrobatik verbirgt sich eine regelrecht ostentative Verherrlichung des macht- und verfassungspolitischen Status quo.

2. Macht und Ideologie
Ein ebenfalls der Regierung nahstehender Fernsehjournalist Dmitrij Kiseljov hat das Vorwort zur ersten Auflage des Werkes geschrieben, in dem er beiläufig die „höchsten Werte“ Russlands postulierte und diese kurzerhand zum ideologischen Fundament der russischen Staatlichkeit erklärte: „Das Fundament unserer jahrhundertelangen Ideologie sind Wahrheit (pravda) und Gerechtigkeit (spravedlivost`). Alle von Russland durchlebten Metamorphosen sind eben nichts anderes als eine selbstlose Suche nach Wahrheit (pravda) und Gerechtigkeit (spravedlivost`). Wir bleiben weiterhin diesen höchsten Werten unserer Existenz treu, worauf wir das Modell unseres Staates, dessen wichtigstes Merkmal Festung und Unverwundbarkeit ist, nach unseren Vorstellungen aufbauen werden.“

Kiseljov beteuert also offenbar mit vollem Ernst, dass das Fundament des russischen Staates auf pravda und spravedlivost´ gegründet ist. Diese Äußerung einfach als Propaganda abzutun, wäre voreilig und würde dem traditionellen Selbstverständnis der russischen Geistes-, Rechts- und Verfassungsgeschichte weder gerecht noch angemessen. Eine merkwürdige Vermengung von Ideologie, Axiologie und Macht spricht allerdings dafür, dass die sowjetisch geprägten Denkvoraussetzungen der herrschenden Eliten im postsowjetischen Russland einerseits immer noch lebendig und nicht ganz überwundenen sind; sie versuchen sich andererseits aber davon zu befreien, indem sie sich offenbar unreflektiert auf ihre russisch-orthodoxe Geistes- und Lebenstradition besinnen. Denn Ideologie und Axiologie sind nun einmal ihrem Ursprung und Sinn nach zwei unvereinbare Gegensätze.

Was steckt aber hinter Kiseljovs „ideologisch“ verklärten axiologischen Berufung auf die „höchsten Werte“ im Zusammenhang mit dem Aufbau des russischen Staates? Jedes Weltbild wird zu einem Abbild einer bereits um uns herum existierenden „Realität“ (realitas) und – so gesehen – in einem hohen Maße konstruiert. Das daraus resultierende Problem besteht ja darin, dass ein solch konstruiertes Weltbild vielfältiger Interpretation und Bewertung fähig und willig ist und dadurch eine

apriorische Orientierungslosigkeit impliziert, was den Wahrheitsgehalt der existierenden „Realität“ stets hinterfragt. Eine Orientierung kann darum Ideologie, Axiologie, Tradition, Religion oder eine bestehende Machtordnung bieten.

Als marxistisch geschulter Zeitgenosse muss Kiseljov (geb. 1954) ja wissen, dass der marxistische Ideologiebegriff eine bestimmte Beziehung von Sein und Bewusstsein voraussetzt bzw. dass die Ideologie die Wiederspiegelung einer sozialen Realität und damit der Ausdruck bestimmter Machtinteressen ist. Nun hat der Begriff Ideologie – von Napoleon Bonaparte stammend – im Laufe der Zeit einen tiefgreifenden Wandel erfahren und ist bis heute in seiner Verwendung vieldeutig geblieben.2

Hinter der im Begriff Ideologie steckenden „Idee“ steht eine neue von René Descartes (1596-1650) in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts entwickelte Bewusstseinsphilosophie, die nur zwei Substanzen: Res extensa und Res cogitans, Sein und Bewusstsein, anerkannte. Die „Ideen“ sind nicht mehr – wie die griechische Philosophie uns lehrte – die Urbilder des Seins, sondern „Inhalte des Bewusstseins“. Nun hat diese Descartes´ „Ideenlehre“ ebenfalls eine Transformation dergestalt erfahren, als sie von John Locke (1632-1704) über Étienne Bonnot de Condillac (1714-1780) zu Pierre Cabanis (1757-1808) und Antoine de Tracy (1754-1836) gelangte, die ihre neue „science idéologique“ zu einer Lehre von „Ethik und Politik“ entwickelte. Diese Lehre der „Ideologen“ wurde vom Direktorium der Französischen Republik 1796 zur Staatsphilosophie erklärt. Hier wird zum ersten Mal in der europäischen Geistes- und Verfassungsgeschichte das Junktim zwischen Revolution und Philosophie, Macht und Ideologie hergestellt.

Kaum war Napoleon zur Macht gelangt, schob er die „Ideologen“, die ihm zwar zur Macht verhalfen, aber seine Diktatur kritisierten, beiseite. „Diese Ideologen“ – empörte er sich – seien eben „Metaphysiker“ (Schimpfwort in Napoleons Sprache). Sie erdreisteten sich, sich in seine Regierung einzumischen. Seitdem sei nach Meinung von Otto Brunner3 „das Wort >Ideologie< in jenem abwertenden Sinn als einer lebensfremden Theorie in wenigen Jahren in Europa verbreitet worden. Napoleon rühmte sich selbst, noch nach seinem Sturz, dass er es war, der diesem Wort weiteste Geltung verschafft habe.“

Seit Napoleon wurde also „Ideologie“ zu einer politischen Theorie, die direkt in die Machtsphäre eingreift: innenpolitisch zwecks Revolutionierung der Massen oder Apologie des politischen Status quo und außenpolitisch fungiert sie heute als Funktion der Geopolitik.

Was nun unsere Autoren der „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ anbelangt, so verwenden sie den Ideologiebegriff eben innenpolitisch im Sinne der Apologie des macht- und verfassungspolitischen Status quo. Das Problem ist nur, dass die „Inhalte des Bewusstseins“ – Pravda und Spravedlivost` -, die dieser „Ideologie“ an Stelle der Sowjetideologie zugrunde gelegt werden sollten, keine ideologischen, sondern axiologischen Kategorien sind. Was ideologisch postuliert und machtpolitisch verklärt wird, wird axiologisch legitimiert. Dieser geistige Wirrwarr deutet auf ein immer noch bestehendes Identitätsdilemma, in dem sich gegenwärtig die russische Kultur- und Machtelite befindet.

3. Macht und Recht
Kiseljov hat mit seinem Verweis auf Wahrheit (pravda) und Gerechtigkeit (spravedlivost´) als Fundament des russischen Staates unbewusst ein weiteres Problem angesprochen, das einen unmittelbaren Bezug zur Geistes- und Rechtsgeschichte Russlands hat. Die neuzeitliche Rechtsentwicklung, die sich in Westeuropa seit dem 16./17. Jahrhundert in verschiedenen Etappen und in einem allmählichen Prozess vollzieht, hat die russische Rechtsgeschichte nie nachvollzogen. Der im Westen erfolgte „Zerfall der einheitlichen religiösen Weltordnung“ und „dadurch bedingtes Auseinandertreten von Wahrheit und Recht“4, fand in das russische Denken keinen Eingang. Ein weiterer Grund der russischen Besonderheit kommt noch hinzu: Das russische Wort „spravedlivost´“ und der abstrakte Begriff der Gerechtigkeit sind nicht ohne weiteres deckungsgleich und muss in einem ganz anderen Kontext gesehen werden. Spravedlivost´ weist im Sinne der russischen ewigen „Suche nach Ganzheitlichkeit“ (iskanie celostnosti) des Lebens und nach „ganzheitlicher Wahrheit“ (celostnoj pravde) im Leben vor allem auf eine symbiotische Synthese von „pravda – istina“ und „pravda – spravedlivost´“ hin.5

Betrachtet man das russische Denken vor dem Hintergrund des Begriffs der Ganzheitlichkeit, so stellt man fest, dass die „Suche nach Ganzheitlichkeit“ das Auseinanderfallen von Recht und Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit verhindert hat. Diese „Suche nach Ganzheitlichkeit“ beherrscht bis heute die russische Lebenskultur genauso wie das russische politische Denken. Es entstand im Verlauf von Jahrhunderten ein kaum zu entflechtendes axiologisches Surrogat, dessen ganze Ohnmacht in der russischen Rechts- und Verfassungswirklichkeit zum Vorschein kommt. Denn ein ganzheitlich geprägtes russisches Denken kann in der rauen politischen Wirklichkeit allein machtlogisch aufgelöst werden.

Es war der Hegelianer und bedeutende russische politische Denker des 19. Jahrhunderts Boris N. Čičerin (1828-1904), der – wie kein anderer – die verfassungshistorische Entwicklung der russischen Herrschaftstradition auf den Punkt brachte: „In Russland . . . sollte sich nicht so sehr das Rechtsprinzip . . ., als vielmehr das Machtprinzip entwickeln (в России . . . должно было развиться не столько начало права . . . сколько начало власти).“6

Es geht hier aber nicht so sehr darum, die russische Verfassungswirklichkeit zu entlarven, als vielmehr darum, das axiologische Selbstverständnis der russischen Gegenwart freizulegen. Die in der neuzeitlichen Verfassungsentwicklung proklamierten Prinzipien der allgemeinen Freiheit und Rechtsgleichheit finden in der machtlogisch fundierten russischen Verfassungsrealität keinen adäquaten Niederschlag. Freiheit ist hier nicht „vor dem Recht“, sondern „im Recht“7, d. h. die vom „Gesetz“ (zakon) gewährte Freiheitssphäre bleibt de facto jederzeit disponibel. Die machtlogisch fundierte Rechtswirklichkeit steht im Widerspruch sowohl zum ganzheitlich geprägten russischen Rechtsdenken, welches das Recht (pravo) und Gesetz (zakon) gleichsetzt, als auch zum westlichen Rechtsbegriff neuzeitlicher Herkunft, der die rechtlich verbindliche „Schrankenziehung“ postuliert, „um die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in Übereinstimmung zu halten.“8 Dieses neuzeitliche Recht dient zwar ebenfalls „der Sittlichkeit, aber nicht, indem es ihr Gebot vollzieht, sondern indem es die freie Entfaltung ihrer, jedem einzelnen Willen innewohnenden Kraft sichert.“9

Der so verstandene Rechtsbegriff zeigt mit aller Deutlichkeit, dass das neuzeitliche Rechtsverständnis eine klare Trennung zwischen Recht und Ethik, Recht und Sittlichkeit, Recht und Gerechtigkeit vollzieht, sodass „das Verhältnis von Recht und Moral nicht so gedacht werden kann, dass das Recht etwa selber sittliche Inhalte aufnimmt und verwirklicht.“ Der neuzeitliche Rechtsbegriff wird „als Begrenzung subjektiver Rechte gesehen und ist unfähig, materiale ethische Wertgehalte zu übernehmen.“10 Anders formuliert: Das Recht wird funktional bestimmt und nicht sittlich begriffen oder ganzheitlich verstanden. „Dieser funktionale Rechtsbegriff ist der Preis der allgemeinen, emanzipierten Freiheit. Wenn man diese Freiheit will, ist es unausweichlich, das Recht funktional zu reduzieren.“11

Das fehlende funktionale Rechtsverständnis und das Unvermögen bzw. der Unwille, das Recht allein reduktionistisch und nicht ganzheitlich aufzufassen, wodurch sich die Rechtsfunktionalität erst überhaupt konstituiert, vom russischen Denken jeder Couleur aber als rein „formalistisch“ und „rationalistisch“ missverstanden und verworfen wird, sind dasjenige, was die russische Verfassungsentwicklung für das etatistisch zentrierte Machtdenken so anfällig und willfährig macht. An die Stelle eines funktionalen, auf die Freiheitsregelung bezogenen Rechts tritt hier eine Machtopportunität als Funktion der etatistisch zentrierten Machtpolitik.

4. Russisches Staatsverständnis
(a) Gosudarstvo und Gosudar´
Die Apologie des macht- und verfassungspolitischen Status quo geht so weit, dass die Apologeten „der russischen Staatlichkeit“ einerseits zur Legitimation des bestehenden Herrschaftssystems eine Art terminologische Akrobatik betreiben und Vladimir Putin andererseits – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – nicht als einen demokratisch gewählten Staatsüberhaupt, sondern als Herrscher (gosudar´) bezeichnen, womit sie einen etymologisch belastenden Begriff verwenden: „Die russische souveräne Volksherrschaft (suverennoje narodovlastije)“ – werden wir belehrt – „erweist sich als eine zivilisatorische Alternative zur (westlichen) Demokratie. Der Garant dieser Volksherrschaft ist eben der gegenwärtige russischer Herrscher, Russlands Präsident Vladimir Putin“ (Русское суверенное

народовластие представляет собой цивилизационную альтернативу управляемой демократии. Именно его гарантом является современный русский государь, президент России Владимир Путин).

Man reibt sich verwundert die Augen und fragt irritiert: Ist „Volksherrschaft“ (narodovlastije) und Demokratie (demokratia) nicht ein und dasselbe? Bedeutet die russische „souveräne Volksherrschaft“ eine vom Volk legitimierte Herrschaft des Souveräns (gosudar´), eine Herrschersouveränität? Wollen die Autoren eine Art konstitutionelle Monarchie einführen bzw. wiederherstellen? Stiftet dieser terminologische Cocktail aus „souveräner Volksherrschaft“ als Herrschersouveränität und „Volksherrschaft“, die keine Demokratie bzw. eine andere sein will, eher Verwirrung als Klärung dessen, was die „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ sein sollte? Oder steckt dahinter etwas ganz anderes, was wir eben nicht verstehen?

«Nach unserer tiefen Überzeugung“ – meinen die Verfasser – „waren die russischen Herrscher (русские государи) . . . eben die entscheidende intellektuelle Kraft der russischen Geschichte, welche deren Kontinuität garantierten und die gesamte historische Erfahrung (Russlands) personifizierten.“ „Der Grundirrtum vieler sozialen Theorien von >Staat und Recht<, welche die Kontinuität der russischen Geschichte verkennen, besteht darin, dass sie Macht (vlast´) und Staat (godudarstvo) unterscheidlos betrachten . . ., wohingegen die Macht als ursprüngliches soziales Phänomen im Grunde in jeder sozialen Organisation oft auch außerhalb des Staates oder ohne den Staat bestehen kann . . . Die Macht kann also auch ohne den Staat existieren: entweder ohne Verfahrensregeln (wie Tyrannei) oder mit Verfahrensregeln wie Demokratie (mit Gewaltenteilung, раздел власти).“ Hier wird – anders formuliert – eine Verfassungsform (wie Tyrannei, Diktatur oder eine repräsentative Demokratie mit Gewaltenteilungsprinzip) vom Staat abstrahiert und als bloßes Machtgebilde außerhalb des Staates vorgestellt. Und deswegen stellen die Verfasser (schwarz hervorgehoben) apodiktisch fest: „Als Machtsystem ist die Demokratie eine Alternative zum Staat (Демократия как система власти это альтернатива государству).“

Was wir hier lesen, ist keine neue politische Theorie oder – in der Sprache der Autoren formuliert – keine neue „Ideologie der russischen Staatlichkeit“, sondern eine Betrachtung, der ein anderes, eben russisches Staatsverständnis zugrunde liegt, das seinerseits auf die russische Herrschaftstradition zurückgeht. Diese Tradition identifiziert „Staat“ (gosudarstvo) mit Herrscher (gosudar´) und setzt den „Staat“ im Gegensatz zu einer als bloßes „Machtsystem“ definierten Verfassungsform mit der Herrschersouveränität gleich, verstanden als Konzentration der Herrschaft in einer Hand. Diese sog. „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ ist nichts anderes als eine Wiederentdeckung des russischen Staatsverständnisses.

Der russische Begriff „Staat“ (gosudarstvo) ist von gosudar´ (Herrscher) bzw. von dem älteren kirchenslawischen gospodar´ abgeleitet. Das letztere fällt wiederum mit Gospód´ (God) und gospodin (Herr) zusammen. In der altrussischen Terminologie ist das Wort gosudar´ kein politischer Begriff. Seit Ivan III. bezieht sich das Wort gosudar´ zunehmend auf die Person des Moskauer Großfürsten. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts ist gosudar´ die einzige Anrede des Moskauer Großfürsten. Die Formel „Herrscher von ganz Russlands“ (gosudar´ vseja Rusi) taucht zum ersten Mal 1493 auf und das abgeleitete Substantiv gosudarstvo („Staat“) wird sodann zu einem „Moskauer Specificum“12, das mit dem westeuropäischen, vom status abgeleiteten Staatsbegriff der Neuzeit nicht im Geringsten etwas zu tun hat. Gosudarstvo heißt hier die Herrschaftssphäre des Moskauer Großfürsten, und zwar in doppelter Hinsicht: politisch als alleinige, auf die Person des Herrschers bezogene Machtkompetenz und räumlich als auf das Territorium des Moskauer Herrschertums bezogene Machtausübung.

Zu Beginn des 17. Jahrhunderts setzt sich die Doppelbedeutung des Wortes im Ausdruck „Moskauer Herrschertum“ (Moskovskoe gosudarstvo) endgültig durch und genau diese Staatsauffassung legt die „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ zugrunde, indem sie „Staat“ (gosudarstvo) mit Herrscher (gosudar´) gleichsetzt und dadurch jede Verfassungsform (wie etwa Demokratie als parlamentarisches Regierungssystem) außerhalb des Staates ansiedelt. Während die im Kontinentaleuropa des 17. Jahrhunderts entstandene Naturrechtslehre den Vertragsgedanken entwickelt und diese naturrechtliche Vertragstheorie in der Mitte des 18. Jahrhunderts endgültig „den Durchbruch eines als modern zu bezeichnenden Staatsbegriff herbeigeführt“13 hat, ist also gosudarstvo seinem Ursprung

nach weder naturrechtlich noch vertragsrechtlich fundiert; es ist allein von der Person des Herrschers hergeleitet und hat sich als Herrschersouveränität konstituiert.

Dieser als Herrschersouveränität verstandene Staatsbegriff steht im krassen Gegensatz zu der kontinentaleuropäischen „Idee des souveränen Staates“, die „nicht ablösbar von der gleichzeitigen Umdefinition der Herrschaftsbeziehungen vom Personalverband auf die Vorstellung eines durch Rechtsgebot beherrschbaren Raums“14 Das Gosudarstvo ist eben die Herrscherpersönlichkeit (gosudar´) bzw. der Souverän selbst, der – wie Jean Bodin lehrt – sein Herrschaftsrecht von keiner höheren Instanz ableitet und mit niemand anderen teilen muss. „Nicht schon der Besitz einzelner Hoheitsrechte begründete Souveränität, sondern erst die Verdichtung sämtliche Hoheitsrechte zur umfassenden öffentlichen Gewalt.“15

(b) Gosudarstvo als zentralgesteuerte Raummacht
Das Russische Reich hat sich von diesem Staatsverständnis bis zum Untergang (1917) nie gelöst. Der Übergang von einem sakralen zu einem säkularisierten Staatsbegriff hat nie stattgefunden. Die religiöse Herrschaftslegitimation korreliert zugleich mit dem Grundsatz der Unverjährbarkeit und Unveräußerlichkeit der kraft der Geburt erworbenen Herrscherrechte. Das Herrscherrecht steht traditionell und tendenziell über der Legitimität als raumbeherrschendes und machtbegründendes Prinzip, und zwar infolge des faktischen Besitzes über dem erworbenen Machtraum. Weder wird der Begriff Nation zum Legitimitätsprinzip des russischen „Staates“ noch ist das Nationale ein Deutungsmuster und identitätsstiftend für die russische Autokratie. Die noch intakte heilsgeschichtliche Dimension verhinderte den Vormarsch der ethnisch gefärbten, „nationalen“ Ideologie im Gegensatz zu Westeuropa, wo sie sich zunehmend in der Gestalt des Imperialismus und Rassismus ausbreitete und zur „Integrationsideologie“ der europäischen Nationalstaatsbildung führte, indem sie als Säkularreligion die überkommene, metaphysische Legitimitätsgrundlage des alten Europas delegitimierte.

Diese allgemein-europäische Entwicklung zu Nation, Nationalität und Nationalidee macht sich im Kerngebiet des russischen Herrscherraumes schon deswegen nicht breit, weil dieser sich nie als eine ethnisch homogene Raumeinheit verstand. Nun meint Andreas Renner: „Die begriffsgeschichtliche Karriere der narodnost‘, die sich als moderner Neologismus erst in den 1820/30er Jahren gegen das bereits seit dem 18. Jahrhundert gebräuchliche nacional’nost‘ durchsetzt, verweist auf eine grundsätzliche Verlagerung der russischen Nationsvorstellungen von Demos zum Ethnos.“16

Dieser kühnen These von einer „Verlagerung“ fehlt allerdings das (politische) Substrat, die russische Nation selbst. Deswegen unternimmt Renner auch keinen nennenswerten Versuch genauer zu definieren, was er unter „russischer Nation“ Anfang des 19. Jahrhunderts versteht.

Russland kennt bis heute weder „die russische Nation“ noch „den russischen Nationalstaat“; es ist überhaupt kein „Staat“ im westlichen Sinne des Wortes >status<. Russland ist heute auch kein Herrscherraum im Sinne der traditionellen Staatsauffassung von gosudarstvo, wie die Apologeten „der russischen Staatlichkeit“ uns klarmachen wollen, sondern eine zentralgesteuerte Raummacht, wobei die Raumsteuerung bzw. Raumbeherrschung für das russische Selbstverständnis identitätsstiftend ist.

Man könnte diesbezüglich auch von der russischen raumhaften – aber eben nicht nationalen – Identität sprechen. Ohne die Zentralsteuerung des Raumes büßt die Raummacht nicht nur an ihrer Funktionsfähigkeit ein, sondern auch an ihrer Legitimationskraft, weil diese Legitimation raumhaft, d.h. an Raumbeherrschung und -steuerung gebunden ist.

Zerfällt der russische Machtraum, verliert das Zentrum seine Legitimität als Raummacht und dadurch seine raumhafte Funktionsfähigkeit. Der Machtbesitz geht in Russland traditionell der Machtlegitimation voraus, soll heißen: Macht legitimiert sich selbst, vorausgesetzt, dass sie sich durchsetzt bzw. durchsetzen kann. Als Legitimitätsprinzip hat die Nation keine Rolle gespielt und wird voraussichtlich bis auf weiteres auch keine Rolle spielen.

Es ist durchaus nachvollziehbar, wenn die Gegner Russlands – bewusst oder unbewusst, sei dahingestellt – darauf hinarbeiten, entweder die Zentralsteuerung des russischen Machtraumes zu delegitimieren oder diesen Machtraum axiologisch von innen oder von außen zu sprengen. Würde der russische Machtraum dezentralisiert bzw. werden die vom Zentrum unabhängig agierenden

Raumstrukturen de jure und de facto implementiert oder durch eine bzw. infolge einer wertlogischen Subversion der sogenannten „westlichen Werte“ etabliert, dann wird zum einen die axiologische Souveränität des russischen Machtraumes implodieren, und zum anderen werden zentrifugale Kräfte freigesetzt, welche die russische Zentralsteuerung unter sich begraben.

Deswegen ist Gerhard Simons Feststellung zutreffend, die da lautet: In der russischen „politischen Kultur spielen Führungspersönlichkeiten die zentrale, Institutionen dagegen eine periphere Rolle. Im Zentrum der Macht stand stets eine Person“17 Allein: Nicht nur „im Zentrum der Macht stand stets eine Person“; diese Person ist das Zentrum der Macht, worauf die unsere Verfasser der „russischen Staatlichkeit“ mit ihrer Gleichsetzung von gosudarstvo und gosudar´ zu Recht hinweisen.

Und wenn man die russische Herrschaftsverfassung (modern gesprochen: „das politische System“) als korrupt denunziert, dann verkennt man die Natur der raumhaften und personengebundenen Steuerung der russischen Raummacht. Sie ist ihrer Natur nach darauf angelegt, „korrumpierbar“ zu sein, weil jede personengebundene und rechtsentbundene Machtausübung ihrer Natur nach für Verführung (corruptio) anfällig ist. Die personengebundenen Machtverhältnisse sind amorph bzw. formlos und wissen sich jeder Formalisierung und jeder Verrechtlichung zu entziehen. Die Spielregeln bestimmt eben die Macht- und nicht Rechtslogik, wohingegen die „Institutionen“ allein dazu da sind, den Machtbesitz legitimierend in „geordneten“ Rahmen zu verwalten.

Die russische Raummacht sieht im russischen Nationalismus traditionell und tendenziell eine Bedrohung für das Fortbestehen des russischen Staates, weil sie ihrem Selbstverständnis nach nicht nur übernational, sondern infolge ihrer raumbezogenen Identität auch antinational ist, selbst wenn sie ihn gelegentlich zur Durchsetzung ihrer Machtinteressen zu instrumentalisieren weiß. Die Überlebensfähigkeit des russischen Staates wird darum weder vom russischen Nationalismus noch von „Nation Building“ oder „State Building“, sondern von einem Austarieren der personengebundenen Machtverhältnisse und der daraus resultierenden Implementierung eines Rechtsraumes als einer rechtslogischen Veranstaltung abhängen. Das ist im Grunde die einzige, noch übrig gebliebene Alternative zu der bestehenden Verfassungswirklichkeit, auch wenn diese Alternative für das Fortbestehen der russischen Staatlichkeit alles anderes als risikofrei ist.

Die von den Verfassern der „Ideologie der russischen Staatlichkeit“ wiederentdeckte russische Herrschaftstradition, die sie unbeholfen als „souveräne Volksherrschaft“ verklären und dem liberal-demokratischen Westen gegenüberstellen, ist eine macht- und verfassungspolitische Realität, die längst einer Transformation und keiner Restauration bedarf. Denn die bestehenden Macht- und Verfassungsstrukturen führen eben den russischen Staat in eine national- und geoökonomische Sackgasse, weil sie das Kernproblem der russischen Gegenwart nicht lösen können. Sie konservieren nämlich die national- und geoökonomische Rückständigkeit des Landes und dessen mangelnde ökonomische Wettbewerbsfähigkeit. Statt krankhaft an der etatistischen Tradition festhalten zu wollen, ist es längst an der Zeit, neue verfassungspolitische Wege zu gehen.

5. Narodovlastije versus Demokratie
Nun stellen die „Ideologen“ der „russischen Staatlichkeit“ – wie gesehen – die kühne These auf, dass „die russische souveräne Volksherrschaft (suverennoje narodovlastije) eine zivilisatorische Alternative zur Demokratie ist.“ „Narodovlastije“ (Volksherrschaft) und Demokratie seien zwar Homonyme, aber eben keine Synonyme, da sie ihrem Selbstverständnis nach zwei völlig unterschiedlichen Zivilisationen repräsentieren. Es ist auch nicht mit einem vom Martin Kriele16a geprägten Gegensatzpaar von „Souveränitätsdemokratie“ und „Verfassungsdemokratie“ zu verwechseln. Die Jahrhunderte andauernde kulturelle und geopolitische Konfrontation zwischen Russland und dem Westen setzt sich also unvermindert fort und spiegelt sich – wie man sieht – in den unterschiedlichen Vorstellungen dessen wider, was wir heute „Demokratie“ nennen.

Wer sich zur Aufgabe macht herauszufinden, welchen Mythos die westliche Moderne am meisten beschäftigt, der wird nicht lange suchen müssen und ihn im Begriff Demokratie finden. In diesem Begriff suchte und fand der Westen in seiner ideologischen Auseinandersetzung mit Russland seinen geopolitischen Kampfbegriff, wohingegen Russland bzw. ein einflussreicher Teil der russischen

Gesellschaft in eine ideologische Gegenoffensive übergegangen ist, um die eigene „demokratische“ Alternative – die sog. „souveräne Volksherrschaft“ – zu postulieren.

Das Problem ist nur, dass die beiden Ideologieentwürfe nichts anderes als Mythologie und nur dazu da sind, entweder sich gegeneinander abzugrenzen oder die Gegenseite im geopolitischen Machtkampf zu denunzieren und dadurch zu delegitimieren. War in den längst vergessenen Zeiten christlich das Synonym fürs Gute, heißt heute alles, was politisch positiv besetzt ist, demokratisch. Gut sei, was demokratisch sei.

Demokratie ist aber ein Begriff, welcher der Komplexität der Moderne nicht gerecht wird. Er kann nur im Horizont der verfassungshistorischen Entwicklung verstanden werden. Ein universal postulierter Demokratie-Begriff erweist sich im geopolitischen Machtkampf als der außenideologische Kampfbegriff zwecks Denunzierung, Diffamierung und Delegitimierung des geopolitischen Rivalen; ja, er ist wie kaum ein anderer politischer Begriff der Gegenwart zu dem wirkmächtigsten Machtinstrument zur Beherrschung und Disziplinierung der ungebildeten Massen ebenso wie zum Domestizierungsversuch der außerwestlichen Welt verkommen. Es gibt aber – stellte Gerhard Leibholz bereits vor gut 60 Jahren fest – „einen apriorisch feststehenden, von Zeit und Ort unabhängigen Begriff der Demokratie nicht.“18 Dieser ist vielmehr geistesgeschichtlich und verfassungshistorisch wandelbar und bedarf einer eingehenden, verfassungs- und begriffsgeschichtlichen Würdigung.

Wer die verwickelte Begriffsgeschichte der Demokratie kennt, der weiß, dass noch im späten 19. Jahrhundert „der Begriff Demokratie in der englischsprechenden Welt, aber auch in der romanischen, unter Radikalismus-Verdacht (stand)“. Erst in einem langen quellenden, historischen Prozess hat sich jene demokratische Grundordnung entwickelt, „der außer den primärdemokratischen Elementen der Volkssouveränität und des Mehrheitsprinzips auch so unentbehrliche Bestandsteile unserer öffentlichen Ordnung wie Rechtsstaats- und Repräsentationsprinzip, Parteiensystem und Parlamentswesen angehören.“19

All das sind eben die Attribute eines parlamentarischen Regierungssystems in einem liberalen Verfassungsstaat, die wir gewöhnlich mit dem Begriff der Demokratie umschreiben. Aber selbst der Begriff Volkssouveränität, womit wir insbesondere den Demokratie-Begriff assoziieren, ist längst fragwürdig geworden. Martin Kriele hat bereits 1975 deutlich gemacht, dass es im Verfassungsstaat „keinen Souverän“ gibt, da zur Souveränität „das Element der tatsächlichen Herrschaftsmacht“ gehört. Das Volk herrscht aber nicht; es hat lediglich „bestimmte, ihm von der Verfassung zugewiesene Kompetenzen“. Soweit es sich aber „um fest umgrenzte Kompetenzen handelt, kann es sich nicht um Souveränität handeln.“20

Dieser zentrale Begriff unseres Gemeinwesens wird nach dem Niedergang des Sowjetsystems in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend geopolitisiert, aus seinem innenpolitischen Kontext gelöst, außenideologisch zweckentfremdet, in einen politischen Kampfbegriff umfunktioniert und ja eschatologisch aufgeladen. Das gilt im Übrigen nicht nur für den Begriff der Demokratie, sondern auch für die Begriffe Rechtsstaat und Menschenrechte, die ebenfalls geopolitisch instrumentalisiert werden. Aus verfassungsrechtlich entwickelten Ordnungsbegriffen werden „demokratische“ Verheißungen, welche das Ordnungsgefüge der außerwestlichen Machträume zu delegitimieren und zu destabilisieren suchen. Solche Verheißungen können allerdings die historisch-gewachsenen Machtstrukturen der großräumigen Machträume zwar beeinträchtigen und sogar in Unruhe versetzen, letztlich aber weder aushebeln noch ersetzen, weil diese abstrakten Verheißungen im illiberalen Machtumfeld auch illiberal gedeutet werden und darum keine Chance auf ihre im Sinne der liberalen Rechts- und Verfassungsordnung verstandene Realisierbarkeit haben.

Der westliche Gebrauch des Begriffs Demokratie speist sich zudem aus zwei völlig konträren Quellen: zum einen aus einer liberalen Verfassungstradition englischer Provenienz und zum anderen aus einer vulgär-demokratischen und egalitären Verfassungsideologie französischer Herkunft.21

Der westliche Parlamentarismus ist eine Verfassungsform britischer Provenienz, die „geschichtlich und theoretisch . . . aus der Übertragung des Gedankens des gerichtlichen Prozesses auf den politischen Prozess der Gesetzgebung“ zu begreifen ist. „Das Common Law gab es als Richterrecht vor den Gesetzen: Recht entsteht überhaupt als Richterrecht.“22 Das westliche Verfassungs- und folgerichtig auch Demokratieverständnis(!) ist – wie man sieht – seiner Genesis nach bereits rechtlich fundiert. An Stelle von voluntas tritt hier ratio, weil es eben im politischen Prozess keine neutrale

Instanz gibt. „Jeder denkbare Schiedsrichter ist . . . doch zugleich Mitglied der Gesellschaft, als solches in Interessen, Ideologien, Traditionen verstrickt und also notwendigerweise Partei.“23

Georg Jellinek hat einst die modernen Parlamente außerhalb Englands als „geschichtslose Institutionen“ bezeichnet und festgestellt, dass „in der ganzen Vergangenheit kaum ein zweites Beispiel derartiger unvermittelter Schöpfung einer Organisation zu finden sei, die den Staat von Grund aus zu ändern bestimmt war.“24 Überträgt man diese „geschichtslosen Institutionen“ auf die außerwestlichen Machträume und interpretiert man sie allein im illiberalen Sinne einer vulgär-demokratischen, egalitären Verfassungsideologie etwa als eine Identität von Regierenden und Regierten dahingehend, dass das Volk seine Machtbefugnisse seinen gewählten Repräsentanten, dem Parlament, delegiert und das Parlament sie der Regierung mit der Wirkung delegiert, dass das Volk angeblich durch Vermittlung des Parlaments selbst regiert, und wird diese Verfassungsideologie sodann geopolitisiert, dann, ja dann entsteht in einem solchen Kultur- und Machtraum – sollte diese „geschichtslose Institution“ tatsächlich „erfolgreich“ implementiert werden – entweder Chaos oder Anarchie, oder eine rechtlich entbundene, aber „demokratisch“ bzw. volksherrschaftlich legitimierte Herrschaftsverfassung.

Das letztere finden wir eben in der russischen Gegenwart vor, deren Verfasstheit von den Autoren als „souveräne Volksherrschaft“ (suverennoje narodovlastije) definiert wird. Hier findet eben keine rechtlich gebundene Machtbeschränkung der Staatsgewalt statt; hier wird vielmehr unter Berufung auf die demokratische Legitimität des staatlichen Entscheidungsprozesses die Alleinzuständigkeit des Staates konstruiert, eben weil dieser demokratisch legitimiert ist. Eine solche Staatsgewalt zeigt sich als eine rechtlich entbundene Herrschergewalt, die auf die Mitwirkung weder des Einzelnen noch der Gesellschaft angewiesen ist. Kurzum: Hier geht es um ein Demokratieverständnis im Sinne der potestas legibus absoluta und nicht im Sinne einer verfassungsmäßigen Bindung der rechtsetzenden und der gesetzdurchsetzenden Gewalt.

Liberalem Verfassungsstaat und vulgär-demokratischer Verfassungsideologie, Liberalismus und Demokratie liegen also derart unterschiedliche Denkvoraussetzungen zugrunde, dass der Liberalismus sich im 19. Jahrhundert mit der Monarchie ebenso, wie mit der Demokratie, verbinden konnte. Sie können aber auch „im Gegensatz zueinander treten. Dass der Demokratismus einen antiliberalen Charakter annehmen kann, zeigt sich schon bei Rousseau, der die persönliche Existenz des Menschen dem Prinzip nach aufgehoben und das Individuum schlechthin zur Disposition der Gemeinschaft gestellt hat. Bereits hier ist der einzelne Mensch nicht mehr Subjekt, sondern Objekt – das letztlich gleichgeschaltete Instrument der Volonté Générale.“25

Es wäre deswegen ziemlich abwegig annehmen zu wollen, „dass eine Nation sich eine politische Institution oder ein politisches Verfahren von einer anderen Nation ausborgen und sie in unveränderter Form in ihr eigenes Regierungssystem inkorporieren könnte.“26 Diese Erkenntnis von Ernst Fraenkel trifft uneingeschränkt auf Russland zu, welches weder in der Lage noch gewillt ist, die fremden politischen Institutionen und politischen Verfahren in sein eigenes Macht- und Herrschaftssystem inkorporieren zu lassen. Der westliche Traum von einer Demokratisierung Russlands nach westlichem Vorbild wird das bleiben, was er ist: eben ein Traum, und die sog. „Demokratieförderung“ erweist sich darum immer wieder und immer deutlicher als ein untaugliches ideologisches Machtinstrument im geopolitischen Machtkampf.

Anmerkungen 

1. Сергейцев, Т./Куликов, Д./Мостовой, П., Идеология русской государственности. Питер 22021.
2. Vgl. Brunner, O., Das Zeitalter der Ideologien: Anfang und Ende, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 21968, 45-63.
3. Brunner (wie Anm. 2), 47.
4. Böckenförde, E.-W., Der Rechtsbegriff in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Archiv für Rechtsgeschichte XII (1968), 145-165 (154).
5. Näheres dazu Berdjev, N. A., Russkaja ideja. Moskva 2000, 138.
6. Чичерин, Б. H., О народном представительстве. Москва 1899, 525.
7. Vgl. hingegen Böckenförde (wie Anm. 4), 159: „Die Freiheit ist vor dem Recht, nicht mehr im Recht“.
8. Böckenförde (wie Anm. 4), 159.
9. Savigny, F. C. von, System des heutigen römischen Rechts. Berlin I (1840), 332.
10. Coing, H., Das Verhältnis der positiven Rechtswissenschaft zur Ethik im 19. Jahrhundert, in: Recht und Ethik. Zum Problem ihrer Beziehung im 19.Jahrhundert. Hrsg. v. Jürgen Blühdorn u. Joachim Ritter. Frankfurt 1970, 11-28 (19 f.).
11. Böckenförde, ebd., 160.
12. Stökl, G., Die Begriffe Reich, Herrschaft und Staat bei den orthodoxen Slawen, in: Saeculum 5 (1954), 104-118 (116); vgl. auch Silnizki, M., Art. Staat, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10 (1997), 50-53 (51).
13. Willoweit, D., Art. Staat, in: Handwörterbuch der Rechtsgeschichte 4 (1990), 1792-1797 (1793).
14. Stolleis, M., Die Idee des souveränen Staates, in: Entstehung und Wandel verfassungsrechtlichen Denkens. Berlin 1996, 63-85 (83).
15. Grimm, D., War das Deutsche Kaiserreich ein souveräner Staat? In: Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, hg. v. Sven O. Müller u. Cornelius Torp. Göttingen 2009, 86-101 (89).
16. Renner, A., Russischer Nationalismus und Öffentlichkeit im Zarenreich 1855-1875. Köln/Weimar/Wien 2000, 8 f.).
16a. Kriele, M., Einführung in die Staatslehre. Die geschichtlichen Legitimationsgrundlagen des demokratischen Verfassungsstaates. Hamburg 1975, 227.
17. Simon, G., Zukunft aus der Vergangenheit. Elemente der politischen Kultur in Russland, in: BIOst 10 (1995), 25.

18. Leibholz, G., Strukturprobleme der modernen Demokratie. Karlsruhe 1958, 80.
19. Maier, Können Begriffe die Gesellschaft verändern? In: Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten Wörter. Herderbücherei 1974, 55-68 (59).
20. Kriele (wie Anm. 16a), 111, 113.
21. Vgl. Fraenkel, E., Deutschland und die westliche Demokratie. Stuttgart 1964, 53.
22. Kriele (wie Anm. 16a), 106.
23. Kriele (wie Anm. 16a), 108.
24. Zitiert nach Fraenkel (wie Anm. 21), 20.
25. Leibholz, G., Demokratisches Denken als gestaltendes Prinzip im europäischen Völkerleben, in: Europa – Erbe und Aufgabe. Internationaler Gelehrtenkongress. Mainz 1955, Hrsg. v. Martin Göhring. Wiesbaden 1956, 120-135 (125).
26. Fraenkel (wie Anm. 21), 37.

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