Verlag OntoPrax Berlin

Wohin steuert Europa?

In einer selbstverschuldeten Sackgasse

Übersicht

1. Europa am Scheideweg?
2. Europa als Epizentrum des kommenden Weltkrieges?
3. Vernunfthypothese versus Eskalationshypothese
4. Alles beim Alten?

Anmerkungen

„Kriege beginnen nicht am Tag, an dem die Waffen zu
sprechen beginnen, und enden nicht, wenn …
die Kanonen schweigen.“
(Ludwell Denny)1

1. Europa am Scheideweg?

Drei Jahrzehnte lang war alles klar: Die US-Hegemonialordnung hat sich seit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums etabliert und Europa in Frieden und Wohlstand gelebt. Der Westen hat sich geographisch, ökonomisch und axiologisch in Osteuropa breitgemacht und bis in die letzten Ecken der Welt erfolgreich expandiert. Was will man mehr?

Dreißig Jahre danach ist alles unklar: Die Welt (auch die westliche) hat sich derart verändert, dass viele Unwägbarkeiten und Unsicherheiten entstanden sind. Wer, warum, zu wem gehört, bleibt unklar. Von Jahr zu Jahr stürzt sich die Welt in immer neue Kriege, in immer neue ökonomische Turbulenzen, Umweltkatastrophen usw. Und Europa? Durch Europa schleicht die Angst – die Angst vor einem geopolitischen Bedeutungsverlust, einem Wohlstandsverlust, einem Verlust der Wettbewerbsfähigkeit und neuerdings vor den Folgen des Krieges in der Ukraine, dessen Eskalation und dessen Überschwappen auf ganz Europa.

Das Ende des Ost-West-Konflikts und die dreißigjährige US-Hegemonialordnung haben in der Welt entgegen allen berechtigten und unberechtigten, langgehegten oder illusorischen Erwartungen weder Harmonie noch Einigkeit und Frieden, sondern Spannungen, zunehmende geopolitische Rivalität und immer wieder – als wäre das nicht genug – Krieg und Zerstörung gebracht. Wer ist dafür verantwortlich? Wie konnte es dazu überhaupt kommen? Warum ist das passiert? Fragen über Fragen, aber keine Antworten außer den üblichen Desinformationen und gegenseitigen Denunziationen!

Der Schuldige wurde zwar schnell identifiziert und an den Pranger gestellt. Wie soll aber eine Neuordnung Europas aussehen? Und warum müssen wir überhaupt eine Neuordnung Europas anstreben? Es war doch alles wunderbar, bis eben der „Kriegsverbrecher“ und „Spielverderber“ Putin den unheilvollen Krieg in der Ukraine anzettelte. War alles wirklich wunderbar? Wohl kaum! Sonst wäre es nicht zu dieser Tragödie gekommen.

Wohin steuert heute Europa: sicherheitspolitisch, geopolitisch, geoökonomisch? Die Frage hängt im Wesentlichen davon ab, wer es steuert. Die gegenwärtigen EU-Machteliten sind dazu außenpolitisch und geostrategisch weder fähig noch in der Lage. Außenpolitisch können sie offenbar zwischen >keineswegs< und >keinesfalls< nicht unterscheiden und geostrategisch verwechseln sie immer und immer wieder das Schloss am Meer mit dem Schloss an der Tür, indem sie Substanz mit Akzidenz, das Beständige mit dem Beiläufigen, sprich das strategische mit dem taktischen Denken vermengen.

Europa ist trotz aller zur Schau gestellten Einigkeit und Handlungsfähigkeit tief zerstritten, ratlos, voller Selbstzweifel und befindet sich am Scheideweg zwischen einer glorreichen Vergangenheit und der ebenso beklagenswerten wie friedlosen Gegenwart, zwischen der sicherheitspolitischen Bündnistreue und dem ewigen, aber immer noch unerfüllt bleibenden Verlangen nach einer sicherheitspolitischen Eigenständigkeit, zwischen den geoökonomischen Herausforderungen und der Zukunftsangst vor einem weiteren unaufhaltsamen geopolitischen Bedeutungs- und Wohlstandsverlust usw.

Die Welt hat sich nun mal um uns herum dramatisch verändert und selbst Europas Schutzpatron ist nicht mehr das, was er mal war. Der US-Hegemon verliert ja ebenfalls allmählich und unaufhaltsam seine kurz zuvor noch unangefochtene geopolitische und geoökonomische Vormachtstellung im globalen Raum. Die seit dem Ende des „Kalten Krieges“ entstandenen Machtasymmetrien und asymmetrischen Machtstrukturen bauen sich zwar langsam, aber unaufhaltsam ab und es ist gar nicht klar, wie sich die USA mittel- bis langfristig positionieren und zu Europa stehen werden. Die USA spielen ihr eigenes geopolitisches Spiel, ohne dass die Machteliten Europas es überhaupt begriffen haben. Nur eins ist klar: So wie es war, wird es auf Dauer nicht mehr geben. Je schneller die EU-Europäer das begreifen, umso besser und vor allem friedlicher wird es für Europa und die Welt sein.

2. Europa als Epizentrum des kommenden Weltkrieges?

Die infolge des Krieges in der Ukraine eingeleitete finanzielle Repression, zahlreiche ökonomische Sanktionen gegen Russland und stets in den Medien zu hörende Beleidigungen, Diffamierungen und Beschimpfungen des „Kriegsverbrechers“ Putin, den man lieber heute als morgen – von wem auch immer – beseitigen sollte, nahmen die Spannungen zwischen Russland und dem Westen dramatisch zu. Sie eskalieren die sowieso schon verfahrene und bis aufs Äußerste angespannte geo- und sicherheitspolitische Lage inmitten Europas, die jederzeit explodieren und zum Point of no Return führen könnte. Wollen wir das wirklich?

Die aggressive Intensivierung und Totalisierung des Finanz-, Wirtschafts- und Medien- bzw. Informationskrieges führen unweigerlich zu einer Entfesselungsdynamik, deren Folgen unkalkulierbar sind. Auch die Entgrenzung der Ziele und feindselige Rhetorik, wie sie beispielsweise in der Äußerung der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock zum Ausdruck kamen: Wir werden Russlands Wirtschaft „ruinieren“, beschleunigen nur noch diese entfesselte Eskalationsdynamik und machen letztlich den geopolitischen Rivalen zum „totalen Feind“. Eine gefährliche und verantwortungslose Entwicklung!

Diese „Totalisierung der Politik“ (Dieter Senghaas) wird axiologisch mit Bezug auf unsere „westlichen Werte“ untermauert, ideologisch verklärt und als Kampf gegen den „Kriegsverbrecher“ (Joe Biden) Putin moralisch gerechtfertigt und gutgeheißen. Das ist aber weder Außenpolitik noch Geopolitik noch Sicherheitspolitik, sondern ein Glaubenskrieg, der dem Gegner seine moralische Integrität und axiologische wie ontologische Existenzberechtigung abspricht und dadurch faktisch zu dessen Vernichtung aufruft. Wer aber dem Gegner seine Seinsweise abspricht bzw. ontologisch delegitimiert, möchte ihn weder bestrafen noch besiegen, sondern vernichten. Die Gegenreaktion bedeutet noch mehr Gewalt, noch mehr Zerstörung, noch mehr Leid und Elend.

Je mehr man aber die „Totalisierung der Politik“ betreibt, „die ihre Identität aus einer für existentiell gehaltenen Freund-Feind-Konstellation herleitet,“2 umso mehr fällt Politik und Vernichtung, „Politik und Feindschaft zusammen, umso mehr geht jene in dieser auf, umso einfacher wird der Krieg, umso mehr geht er aus dem bloßen Begriff der Gewalt und Vernichtung hervor, umso mehr entspricht er allen Forderungen, die man aus diesen Begriffen logisch entwickeln kann, umso mehr Zusammenhang einer Notwendigkeit haben alle seine Teile. Ein solcher Krieg sieht ganz unpolitisch aus und darum hat man ihn für den Normalkrieg gehalten. Aber offenbar fehlt das politische Prinzip hier ebenso wenig als bei anderen Kriegen, nur fällt es mit dem Begriff der Gewalt und Vernichtung ganz zusammen und verschwindet unserem Auge“ (Carl von Clausewitz).3

Diese Erkenntnis von Clausewitz, dass nämlich die (Geo)Politik im Falle ihrer „Totalisierung“ zur ontologischen Entwertung der Daseinsberechtigung und letztlich zur Ausrottung des Gegners führt, nahm bereits den „totalen Vernichtungskrieg“ des 20. Jahrhunderts vorweg. Wollen wir etwa diese erbarmungslose Vernichtungslogik des 20. Jahrhunderts wieder aktivieren?

Mehr noch: Die „Totalisierung der Politik“ setzt in Verbindung mit der Existenz der entgrenzten, totalen Vernichtungswaffen, weder einen Gegner noch einen geopolitischen Rivalen, sondern nur noch „den totalen Feind voraus, so wie der totale Feind die Suche nach totalen Mitteln legitimiert – eine fatale Dialektik.“4

Die „fatale Dialektik“ setzt weder Außenpolitik noch Sicherheitspolitik noch überhaupt irgendeine Politik, sondern einen – um mit Carl Schmitt zu sprechen – „absoluten Feind“ und dessen Entmenschlichung voraus. „Es sind ja nicht die Vernichtungsmittel, die vernichten, sondern Menschen vernichten mit diesen Mitteln andere Menschen.“5 Diese verhängnisvolle Entwicklung zur Entmenschlichung des geopolitischen Rivalen führte bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinen zwei Weltkriegen zu einem maßlos gesteigerten Nationalismus, Fanatismus und schließlich zur Vernichtung des „lebensunwerten Lebens“.

„Wie war es möglich“ – fragte Karl D. Bracher einst entsetzt –, „dass auf Jahrzehnte der zunehmenden Friedenssicherung, des scheinbar definitiven Fortschritts in der humanitären Abschaffung der Sklaverei und der Zähmung des Krieges die ungeheuerlichsten Rückfälle in die Barbarei folgten: auf den Ersten der Zweite Weltkrieg, Völkermord und innere Unterdrückung, Arbeit- und Konzentrationslager, Totalisierung des Krieges …, Exilierung, Deportation und Massenvertreibung?“6

Folgt nun jetzt auf den Ersten und den Zweiten ein Dritter Weltkrieg in Europa? Wiederholt sich heute die unheilvolle Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Befinden wir uns womöglich bereits in der Zwischenkriegszeit? Wenn man eine Nuklearmacht ontologisch delegitimiert, axiologisch entwertet und moralisch entmenschlicht, dann läuft man Gefahr, Europa in eine menschenleere Wüste zu verwandeln. Dann würde keine(r) mehr übrigbleiben, der/die irgendjemanden moralisch denunzieren könnte. Dann würde es in Europa auch keinen geben, der selbstgefällig über Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte predigen würde.

3. Vernunfthypothese versus Eskalationshypothese

1982 schrieb ein langjähriger Verfechter der Abschreckungspolitik Adalbert Weinstein: „Die Atomwaffen sind politische Waffen. Ost und West sind sich einig, dass sie nicht eingesetzt werden dürfen. Man kann nur mit ihrem Einsatz drohen. Und diese Drohung hat eine abschreckende Kraft. Sie ist beinahe eine mythische Macht. Die These von der unfehlbaren Wirkung der atomaren Drohung ist eine Hypothese, eine erdachte Vorstellung, eine konstruierte Idee. Niemand kann beweisen, dass sie vor der Wirklichkeit bestehen wird … Atomstrategie ist deshalb so etwas wie die Dialektik zwischen dem Verstand und dem Rationalen, ein Wettkampf zwischen Vernunft und Unvernunft, bei dem die Chance, vernünftig zu reagieren, groß ist.“7

Auf diese „erdachte Vorstellung“ – eine Vernunfthypothese – sollte man sich lieber im Zeitalter des Mächteungleichgewichts nicht mehr verlassen. Was es noch nicht gab, kann noch werden! Denn diese Vernunfthypothese des „Kalten Krieges“ ist heute überholt. Zurzeit des Ost-West-Konflikts herrschte das „Gleichgewicht des Schreckens“, das die Kontrahenten dazu verleitete, sich gegenseitig zu respektieren und auf eine unnötige Eskalation nicht ankommen zu lassen. Dieses Mächtegleichgewicht existiert seit dem Ende des „Kalten Krieges“ nicht mehr.

Die Vernunfthypothese hat sich längst in eine Eskalationshypothese verwandelt: Eine nukleare Drohung hat keine abschreckende Kraft mehr. Zu machtarrogant und zu selbstsicher ist der Westen angesichts der (geo)ökonomischen Schwäche und technologischen Rückständigkeit Russlands geworden, sodass die Chance unvernünftig zu reagieren – und das heißt: extrem eskalierend und drohend zu handeln, und zwar auf beiden Seiten der geopolitischen Barrikade: seitens Russlands eher aus Schwäche und seitens des Westens eher aus Selbstüberschätzung, erheblich gestiegen ist. „Die Seite“ – sinnierte einst Kissinger -, „die ihre Interessen nur durch die Drohung, die gegenseitige Vernichtung von Zivilisten einzuleiten, verteidigen kann, wird nach und nach auf eine strategische und deshalb geopolitische Lähmung zuschlittern,“8 oder – möchte man bezogen auf unsere Gegenwart hinzufügen – zu allem bereit sein.

Das ist eben die Kehrseite der US-Hegemonialordnung, die das geopolitische und geoökonomische Mächtegleichgewicht zerstörte, was im nuklearen Zeitalter, in dem zumindest zwei Großmächte eine nukleare Parität besitzen, einem Sündenfall gleichkommt.

Die Substituierung der Vernunfthypothese durch die Eskalationshypothese ist dem Umstand zu verdanken, dass der Westen nach der erfolgreichen Beendigung des Ost-West-Konflikts zu übermütig geworden ist. Bis heute identifiziert er diesen Erfolg mit einem jahrzehntelangen Wirtschaftskrieg gegen die Sowjetunion und glaubt dieses Erfolgsrezept ohne Abstriche auf das Russland der Gegenwart

übertragen zu können. Das kann sich aber als ein fataler Irrtum erweisen. Dieser ist nämlich auf die Unterstellung einer ökonomischen Untragbarkeit des gegenwärtigen politischen Systems Russlands zurückzuführen, das dem der UdSSR ähneln sollte.

Zum einen hatte das Sowjetsystem gar keine Ökonomie, sondern ein Reproduktionssystem, das auf Beherrschung von Gütern und Ressourcen beruhte. Es erschöpfte sich „in Anweisungen zur Transformation von Ressourcen in Güter, ihrer Produktion einschließlich Vorratshaltung und gelegentlicher Akkumulation sowie ihrer Distribution und Konsumtion.“9 Zum anderen ist die russische Ökonomie der Gegenwart nicht so schwach, wie man denkt, und nicht so isoliert, wie der Westen sich das wünscht. Zum dritten kann Russland selbst bei Wohlstandsminderung im Zweifel autark überleben.

Da der Westen schlussendlich nicht mehr „allmächtig“ ist und keine „absolute“ geoökonomische Vormachtstellung mehr in der Welt hat, hat Russland durchaus einen politischen und ökonomischen Manövrierspielraum, um auch außenwirtschaftlich und monetär handlungsfähig zu bleiben.

Es ist darum noch lange nicht ausgemacht, ob der Westen mit seiner finanziellen Repression und seinen Wirtschaftssanktionen Russland in die Knie zwingen wird. Und sollte er darauf setzen, dass Putin infolge der wirtschaftlichen Kalamitäten gestürzt werden könnte, so könnte das auch zum Bumerang werden.

4. Alles beim Alten?

Die Ignorierung einer nuklearen Eskalation durch die jüngere Generation der EU-Machteliten kehrt nicht nur die Angst der Generation des „Kalten Krieges“ vor einem Atomkrieg exakt in ihr Gegenteil um im naiven Glauben, dass es dazu nie kommen kann, weil es nie kommen darf, sondern übersieht zugleich auch die reale Gefahr, die mit einer sog. „Konventionalisierung der Nuklearstrategie“ zurzeit des Ost-West-Konflikts verbunden war. Diese Strategie bedeutete – folgt man einer im Juni 1962 vom damaligen Verteidigungsminister Robert McNamara gehaltenen und weltweit viel beachteten Rede -, dass „die grundlegende Militärstrategie in einem möglichen allgemeinen Nuklearkrieg auf dieselbe Weise gehandhabt werden sollte, wie eher konventionelle militärische Operationen in der Vergangenheit betrachtet worden sind.“10

Es galt nämlich vor dem Hintergrund des nuklearen Zeitalters, in dem nukleare Abschreckung automatisch zur Selbstabschreckung führte, militärische Gewalt gerade auch im nuklearen Bereich wiederverfügbar zu machen. Oder anders formuliert: Es galt – wie die Militärstrategen sich euphemistisch äußerten – den „Krieg zu retten“. Heute beobachten wir zumindest in der breiten europäischen Öffentlichkeit eine genau umgekehrte Tendenz, nämlich die Tendenz zur Ächtung und nicht zur „Rettung“ jedweden und erst recht nuklearen Kriegs in Europa.

Da die europäische Öffentlichkeit bis zum Kriegsausbruch in der Ukraine von der Prämisse ausging, dass nämlich ein Krieg im „zivilisierten“ Europa der Gegenwart als Mittel zur Beilegung von Konflikten nicht sein könne, weil undenkbar, unterlag sie der Illusion eines friedlichen, den Krieg unmöglich machenden Europas. Wir redeten uns ein, dass wir kraft unserer ökonomischen Übermacht, den Krieg bereits im Voraus unmöglich machen können. Das war eine sich selbst überschätzende Machtarroganz. Eine ökonomische Übermacht hat in der Geschichte noch nie einen Krieg verhindern können.

Der scheinbar nie enden wollende Triumphalismus des Westens erzeugte zudem nach dem Ende des Ost-West-Konflikts das ständige Gefühl der Selbstsicherheit, die zur Selbstüberschätzung führte und im Falle der Zuspitzung einer geopolitischen Konfrontation sogar zur Auffassung, dass allein die Drohung mit finanzieller Repression oder ökonomischen Sanktionen ausreichend sein würde, um Russland abzuschrecken oder zumindest einzudämmen. Damit haben die EU-Europäer zum wiederholten Mal gezeigt, dass es ihnen an einer geostrategischen Urteilskraft mangelt.

Lässt sich der geopolitische Rivale aber nicht einschüchtern und geht er selbst zu Gegensanktionen oder gar zu militärischen Aktionen wie im Falle des Krieges in der Ukraine über, wirken die EU-Selbstüberschätzer auf einmal wie gelähmt, ohne dass sie gegen die eigene Selbstlähmung militärisch irgendetwas ausrichten können. Denn eine direkte militärische Eskalation haben sie ja im Voraus – und zu Recht! – ausgeschlossen.

Wir wiegten uns ja zu sehr in der trügerischen Sicherheit einer ökonomischen, technologischen und moralischen Überlegenheit, obschon die Gefahr einer militärischen Konfrontation nie verschwunden war und deswegen selbst eine nukleare Abschreckungsstrategie nach der Beendigung des Ost-West-

Konflikts voll intakt geblieben ist. „Abschreckung nach der Abschreckung“ nannte Senghaas diese „Abschreckungskonstellation.“ „Denn Abschreckung ist vor allem auch, möglicherweise sogar in erster Linie, eine Psychostrategie mit militärischer Hardware als Rückgrat.“11

Nukleare Abschreckungsstrategie gilt von der Öffentlichkeit unbemerkt weiterhin und „seit den 1990er Jahren in Reaktion auf entsprechende Modernisierungsschübe (sogar) in wachsendem Maße als prinzipiell militärisch verfügbar und somit auch politisch à la Clausewitz inszenierbar.“12

Statt jedoch allein auf eine Eskalations- und Abschreckungsstrategie zu setzen, wäre eine Deeskalationsstrategie angebracht, was den EU-Triumphalisten gar nicht in den Sinn kommt, sind sie doch von ihrer eigenen moralischen und axiologischen Überlegenheit derart überzeugt, dass sie lieber weiter eskalieren als deeskalieren wollen. Da man aber eine Eskalationsschraube nur solange drehen kann, bis sie bricht und das heißt: in eine militärische – wenn nicht gar – nukleare Eskalation ausarten könnte, dreht sich alles ergebnislos im Kreis.

Nach dem Motto: Eskalation sei möglich, Deeskalation unwahrscheinlich, gibt es dann nur noch die Alternative: Entweder eine totale Lähmung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit der EU oder die Wiederverfügbarmachung der militärischen Gewalt. Beides kommt für die EU nicht in Frage. Handlungsunfähigkeit sei ebenso keine Option wie die militärische Gewalt. Und so befindet sich Europa in einer selbstverschuldeten Sackgasse.

Der banale Grund hierfür ist neben dem nie enden wollenden EU-Triumphalismus über den im „Kalten Krieg“ besiegten Rivalen wohl in der fantasielosen ebenso wie unzeitgemäßen Eskalationsstrategie zu sehen. Denn Eskalation führt zur Gegeneskalation; Gegeneskalation führt zur noch mehr Eskalation; noch mehr Eskalation führt zur diplomatischen Selbstlähmung; diplomatische Selbstlähmung führt letztlich im besten Falle zur Handlungsunfähigkeit, im schlimmsten Falle zu einer militärischen Eskalation, sobald die eingeleiteten Finanzrepressionen und Wirtschaftssanktionen versagt haben bzw. wirkungslos geblieben sind. Und dieser Teufelskreis kennt kein Ende.

Der Geist des Unzeitgemäßen weht nach wie vor durch die europäischen Korridore der Macht und keine(r) hat vor, ihn zu vertreiben. Europas Zukunft bleibt ungewisser denn je!

Anmerkungen

1. Denny, L., Amerika schlägt England. Geschichte eines Wirtschaftskrieges. Berlin u. Leipzig 1930, 10.
2. Senghaas, D., Weltordnung in einer zerklüfteten Welt. Hat Frieden Zukunft? Berlin 2012, 90.
3. Clausewitz, C. v., Vom Kriege. 17. Aufl. Bonn 1966, 1082; zitiert nach Senghaas (wie Anm. 2), 91.
4. Senghaas (wie Anm. 2), 92.
5. Schmitt, C., Theorie der Partisanen. Zwischenbemerkungen zum Begriff des Politischen. 2. Aufl. Berlin 1963, 94 f.
6. Bracher, K. D., Der historische Ort des Zweiten Weltkrieges, in: 1939. An der Schwelle zum Weltkrieg, hrsg. v. Klaus Hildebrand u. a. Berlin/New York 1990, 347-374 (354).
7. Zitiert nach Senghaas (wie Anm. 2), 93.
8. Henry Kissingers Aussage vor einem amerikanischen Kongressausschuss 1981; zitiert nach Senghaas (wie Anm. 2), 95.
9. Heinsohn, G./Steiger, O., Eigentumsökonomik. 2. Aufl. Marburg 2008, 18.
10. Zitiert nach Senghaas (wie Anm. 2), 99.
11. Senghaas (wie Anm. 2), 113, 121.
12. Senghaas (wie Anm. 2), 124.

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